In diesem Fall ist das aber in Ordnung, vorausgesetzt, die Drehbücher bieten Alexander Held, Bernadette Heerwagen und Marcus Mittermeier so viel Spielmaterial wie die Vorlage zu "Auf der Straße, nachts, allein". Sie stammt wie schon bei "Wo bist du, Feigling" von Friedrich Ani und Ina Jung, und natürlich hat es nur zunächst den Anschein, als hätten der Mordfall und das Privatleben von Harald Neuhauser (Mittermeier) nichts miteinander zu tun.
Der Kriminaloberkommissar hat mit Ilona (Judith Rosmair) die Frau seines Lebens kennengelernt, weshalb er sich nicht so recht auf seine Arbeit konzentrieren kann: Er soll gemeinsam mit Kollegin Flierl (Heerwagen) rausfinden, was es mit der Leiche auf sich hat, die zu Beginn tot aus der Isar gefischt wird. Die Zimmerkarte eines Hotels ist die einzige Spur, die die beiden haben. Tatsächlich war der Tote dort zu Lebzeiten Stammgast, aber bezahlt hat er nie: Er war ein Mann für gewisse Stunden. Weil Schaller (Held), Chef der wegen des Kellerbüros von den Kollegen abfällig "Kellerasseln" genannten Abteilung, mit Hilfe eines Selbstversuchs rausgefunden hat, wo die Leiche in die Isar gestürzt ist, rückt alsbald ein Kiosk ins Zentrum der Ermittlungen. Tatsächlich entpuppt sich Lukas Finke (Ludwig Blochberger), der den rund um die Uhr geöffneten kleinen Laden führt, nicht nur als Besitzer der Tatwaffe, sondern auch als Geliebter des Callboys. Viel interessanter ist jedoch, wem der Kiosk gehört: Ilona, Neuhausers neuer Freundin.
Die eigentliche Geschichte ist im Grunde das Gegenteil von spektakulär; das war bei früheren Episoden der Reihe schon mal ganz anders. Trotzdem ragt auch "Auf der Straße, nachts, allein" aus dem Krimialltag heraus, weil schon allein das Zusammenspiel von Held, Heerwagen und Mittermeier sehenswert ist. Die ungewöhnlichste Rolle spielt dabei wieder mal Schaller, der gleich zu Beginn für eine höchst skurrile Szene sorgt, als scheinbar eine zweite Leiche die Isar runtertreibt. Später wird er mit Hilfe des imaginierten Mordopfers die verschiedenen möglichen Tathergänge rekonstruieren. Als dem ebenso verliebten wie eifersüchtigen Neuhauser klar wird, dass er nur "ein Depp fürs Bett" ist, lässt er sich zu der einen oder anderen Unbeherrschtheit hinreißen lässt; dabei gerät er unter anderem mit einem arroganten Kollegen aneinander (Götz Otto als Gastdarsteller). Derweil probiert Angelika Flierl mal aus, wie so ein Callboy funktioniert, muss aber feststellen, dass sich Vorspiel und Befragung nur bedingt miteinander kombinieren lassen; und selbstredend wird ihr "Enrico" später noch mal über den Weg laufen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Szenen wie diese und natürlich das Hauptdarstellertrio verleihen "München Mord" innerhalb der vielen Krimireihen eine echte Sonderstellung. Schon die von Schaller hartnäckig zungenbrecherisch "Fräulein Flierl" genannte Angelika ist mit ihrer paradoxen Mischung aus Mangel und Überschuss an Selbstbewusstsein eine reizvolle Figur, aber ein Typ wie Schaller - "Schauen Sie nicht so kopflos!" - sucht in der an sonderbaren Gestalten wahrlich nicht armen Krimiszenerie ihresgleichen; Held verkörpert diesen allerlei Gedichte rezitierenden Mann, der bei der Mordkommission denkbar deplatziert erscheint, zudem unverwechselbar. Zu den vielen originellen Szenen des vom Reihenspezialisten Anno Saul ("Der Kommissar und das Meer", "Reiff für die Insel", "Nord Nord Mord") inszenierten Krimis gehört auch die Befragung eines Verdächtigen über drei Ecken und zwei Mobiltelefone.