Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Eltern werden sich freuen: 23 Uhr ist natürlich ein idealer Sendetermin für einen neunzigminütigen Dokumentarfilm, wenn man Kinder hat und um 6 Uhr aufstehen muss, weil die Kleinen vor der Arbeit noch in die Kita gebracht werden müssen. Wer auch immer für solche Programmierungen verantwortlich ist, hat entweder selbst keine Kinder oder will die Zielgruppe ärgern. Dabei wird der hochinteressante und ungemein informative Film seinem Titel vollauf gerecht: „Elternschule“ bietet Vätern und Mütter Anschauungsunterricht. Das Autorenduo Jörg Adolph und Ralf Bücheler hat sich eine ganze Weile lang in der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen getummelt. Hier kommen Menschen hin, die sich ohne Übertreibung am Rande der Verzweiflung befinden, weil ihre Kinder nicht mehr schlafen oder essen wollen; im schlimmsten Fall beides. Eine Mutter ist derart am Ende, dass sie keinen anderen Ausweg sieht, als sich von ihrem Kind zu trennen. Obwohl die Autoren auf jeden Kommentar verzichten, lassen sie keinen Zweifel daran, dass es vor allem die Eltern sind, denen ihr Mitgefühl gilt.
Diese Haltung vertritt in gewisser Weise auch Dietmar Langer. Der Psychologe ist der Star des Films; seine Ausführungen bieten einen scheinbar unerschöpflichen Erfahrungsschatz. Adolph und Bücheler zeigen ihn bei einem Vortrag, bei Elterngesprächen sowie bei der Interaktion mit einem Mädchen, das seine Trotzphase nach allen Regeln der Kunst auslebt. Ein gemeinsamer langer Spaziergang ist so etwas wie das Herzstück des Films, weil das Kind seinen Widerstand angesichts von Langers Mischung aus Konsequenz und Engelsgeduld irgendwann aufgibt. Dramaturgischer roter Faden sind jedoch seine Ausführungen. Er skizziert an einer Tafel, warum Trotzanfälle immer dann auftreten, wenn man sie überhaupt nicht brauchen kann, nach welchem strategischen Muster Kinder ihre Eltern in den chronischen Stress treiben und wie diese den Teufelskreis beenden können. Filmausschnitte mit entsprechenden Fallbeispielen belegen, wie erschreckend gut kleine Kinder ihre Erzeuger im Griff haben. In diesen Szenen erinnert „Elternschule“ zwar an eine mitgefilmte Vorlesung, doch der Psychologe hält seinen Vortrag derart lebendig, dass weder Langeweile noch Überforderung aufkommen. Abgesehen davon ist dieser Teil des Films enorm lehrreich, und zwar keineswegs nur für Eltern von Problemkindern: weil Langer deutlich macht, dass Väter und Mütter Machtspielchen mit den Kindern nur verlieren können.
Das ist jedoch nur die eine Seite des Films. Die andere hatte zur Folge, dass die Autoren dieser Koproduktion des SWR zum Kinostart im vergangenen Herbst Opfer eines sogenannten Shitstorms geworden sind, der jedoch eigentlich der Klinik galt. Angesichts der Bilder schreiender Kinder in Gitterbetten entrüsteten sich Menschen über „Nazimethoden“ und plädierten dafür, den Film zu verbieten. Ein Kinderarzt wunderte sich in seinem Blog über die „Schamlosigkeit, mit der erzieherische Gewalt dargestellt, glorifiziert und auch medikalisiert“ werde. In der Tat gehen die entsprechenden Bilder unter die Haut. Weil sich Langers Mitarbeiterinnen gar nicht erst auf Machtkämpfe mit den Kindern einlassen, um ihnen auf diese Weise das Segel aus dem Wind zu nehmen, kommt es immer wieder zu Szenen, in denen die Kleinen ihren Gefühlen in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung freien Lauf lassen; diese Momente sind mitunter kaum auszuhalten. Autor und Regisseur Bücheler verweist dagegen in einem Statement auf die „absoluten Notsituationen“ der betroffenen Eltern und macht klar, dass Therapie nicht immer nur schön sei.
Trotzdem ist die kritische Haltung vieler Zuschauer nachvollziehbar. Gleich zu Beginn empfiehlt Langer den Eltern, Situationen nicht eskalieren zu lassen: „Ich muss nicht warten, bis ich mit dem Rücken zur Wand stehe. Theater gibt es sowieso, also lieber gleich Grenzen setzen.“ Das ist sicher richtig, Konsequenz ist das A und O jeder Erziehung: Wer zwar klare Regeln setzt, aber zulässt, dass sie ständig gebrochen werden, darf sich nicht wundern, dass ihm die Kinder irgendwann auf der Nase rumtanzen. Mit dem Verzicht auf einen Kommentar nehmen die Autoren jedoch das Missverständnis in kauf, dass die dokumentierten Therapiemaßnahmen auch für den Erziehungsalltag gelten könnten.
Eine Petition, deren Unterzeichner den Film verbieten lassen wollen, geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt die Frage, ob die Gelsenkirchener Therapiemethode psychische und physische Gewalt einsetze. Tatsächlich zeigen Adolph und Bücheler, wie Kinder zur Nahrungsaufnahme oder mit sanfter Gewalt zum Stillsitzen gezwungen werden. Andererseits gibt der Erfolg Langer und seinen Mitarbeiterinnen recht: Im einige Monate später gefilmten Epilog ist aus dem trotzigen Mädchen ein ganz normales Kind geworden, und die Essprobleme der anderen haben sich auch gegeben. Gerade wegen der Lehren Langers ist „Elternschule“ aller Kritik zum Trotz gerade für junge oder werdende Eltern empfehlenswert, auch wenn sich männliche Zuschauer vielleicht fragen werden, wieso praktisch keine Väter vorkommen, schließlich sind auch sie Teil des Problems; gezeigt werden jedoch nur Mütter, die nicht loslassen können. Da der künstlerische Gehalt des Films überschaubar ist, lässt er sich beim Abrufen in der ARD-Mediathek ohne nennenswerte optische Verluste selbst auf einem Tablet anschauen.