Die alten Kirchenlieder sind für mich oft eine Qual. Da verspricht der Wochenend-Workshop "Sing und Swing" der Hamburger Kirchenmusikerin Regine Schütz Abwechselung. Außer mir wollten noch 24 andere Chorsängerinnen und Sänger wissen, wie moderner Swing und Gospel-Gesang funktioniert. Bunte Kleidung brauchen wir nicht, aber ein anderes Gefühl für Rhythmus.
Sing and swing – das klingt schön locker. Um den Groove zu fühlen, muss ich mich wie alle anderen gut auf die Chorleiterin einstellen. Zuhören können ist mein Job, aber fünf Stunden am Stück neuen Stoff singen, das erfordert auch eine Menge Energie. Am Sonntag früh soll dann das klangliche Ergebnis im Gottesdienst vorgestellt werden.
Wie die meisten Chorsängerinnen und -sänger kenne ich zwar die europäischen Kirchen-Chorklassiker von Bach, Verdi und Mendelssohn ganz gut – die mit einer Mischung aus Kopf und Bruststimme gesungen werden. Der Groove im modernen Swing und Gospel ist für mich eine Leerstelle. Mich treibt die pure Neugier, sich diese Musik zu erarbeiten.
Überraschend viele Männer dabei
Ähnlich ticken auch die anderen Teilnehmer beim Swing-Workshop in der evangelischen Paul-Gerhardt-Kirche Altona in Hamburg. Die meisten Sängerinnen haben Chorerfahrung. Überraschend viele Männerstimmen kommen zu den Proben. Ein Drittel singen im Bass oder Tenor. Der Sopran hingegen ist schwach besetzt, die Oberstimme schafft es manchmal nicht dran zu bleiben. Während meine Stimmlage, der Alt, die stärkste Gruppe bildet.
Langsam trudeln die Teilnehmer ein. Die Chorleiterin steht neben einem alten schwarzen Flügel. "Willkommen", sagt sie. "Ich bin Regine." Und ohne lange Einführung bittet sie zu den ersten Übungen. Zum Warming up klatschen wir in die Hände. Ich versuche mit den anderen die Zwischenschläge, den Offbeat nachzuklatschen. Oder den zweiten und vierten Schlag, den Backbeat zu finden.
Um ein Gefühl für den Sound zu bekommen, klopfen wir die Rhythmen auf dem eigenen Körper. Regine macht es vor, trommelt mit den Händen auf Brust, Armen und Beinen. Sofort im nächsten Takt soll der Chor das Gehörte wiederholen. Ein schneller Wechsel. Ich versuche mitzukommen, die Achtel oder Sechszehntel Schläge auf Becken oder Oberschenkeln mitzuklopfen. Das fordert alle Sinne.
Auch das Einsingen geht mit ganzem Körpereinsatz. Singen auf einem Bein, während das andere Bein frei schwingt. Singen und imaginäre große Bottiche rühren. Nach Atem und Bauchübungen dröhnen wir: "Come'on baby, feel the floor - Come'on baby, let me low". Bis die Töne mindestens eine Tonleiter nach unten wandern. So tief und laut habe ich wohl noch nie gesungen. Das spricht die in Kirchenchören sonst weniger geforderte Bruststimme an. Volle Konzentration nun auf den Ausbau dieser Stimme. Das macht mir riesigen Spaß. Auch sonst blicke ich meist in entspannte Gesichter, wenn ein Part wieder geklappt hat.
15 Lieder stehen auf dem Programm – viele sind auf Englisch, manche in einer südafrikanischen Sprache vertont. Die meisten Arrangements sind erst ein paar Jahre alt. Einige stammen von dem Hamburger Pastor und Komponisten Reinhard Pikora auf Englisch. "Come let us sing....Come let's make a joyful noise."
Die afrikanischen Lieder sind sehr eingängig. Ein Traditional namens Singa wird mein Ohrwurm. Der ungewöhnliche Rhythmus eignet sich wunderbar zum Swingen. Nach kurzer Zeit steht keiner mehr steif und fest auf dem Boden. Wir singen durch den Raum wandernd. Ich finde, das Grooven, das leichte Schwingen unterstützt auch das musikalische Gedächtnis. Aber wir sind in Hamburg, Bewegung will hier auch keiner übertreiben.
Das Pensum ist sportlich: Freitag abend die erste Probe, den halben Samstag mit ausgedehnter Mittagspause. Am Sonntag schließlich die Generalprobe und im Anschluss Auftritt im Gottesdienst. Rund 9 Stunden reine Probenzeit. Regine Schütz erläutert: "Ein intensives Chorwochenende ersetzt fünf bis sechs Wochentermine Proben." Das gemeinsame Singen versetzt mich in eine supergute Laune. Von den Swing- und Gospelstücken kannte ich kein einziges. Irgendwie bin ich bei Mahalia Jackson stehen geblieben, die Songs hörte meine Mutter früher gerne zu Weihnachten. Der moderne Gospel speist sich aber aus Pop- und Soul-Elementen, manchmal sogar HipHop, sagt Regine. Meine Favoriten im Workshop sind zwei afrikanische Lieder und ein paar moderne Spirituals.
Auf Nachfrage erfahre ich, dass die Kantorin und Chorleiterin Schütz sich in der Nordkirche in der Populärmusik weitergebildet hat. Einen Teil der Gesangstechniken bringt sie hier ein. So gelingt ein für meine Ohren interessanter Mix aus einigen Oldfashion-Gesangbuchliedern und modernen Swing- und Spiritual-Arrangements. Als Chorsängerin lass ich mich auch gerne freundlich anleiten. Regine korrigiert uns mit einem Lächeln und Augenzwinkern. Die Korrekturschleifen sind fortlaufend, deshalb ist ihre Motivation wichtig.
Am ersten Abend lernen wir fünf Lieder kennen. Am zweiten Tag weitere sieben. Ich bin froh, dass wir Entspannung einüben. Damit die Stimme nicht so abgesungen klingt und ich heiser werde. Die Anspannung in Hals und Kehle merkt man meist erst hinterher. Regine arbeitet viel mit Imagination und Vorstellung. So ganz habe ich es noch nicht verinnerlicht, wie die Spannung um den Beckengürtel herum gehalten wird, während Füße, Oberkörper und ganz wichtig der Kiefer entspannt bleiben sollen. Regine spricht dann von der "nassen Badehose", die wir spüren sollen, um die Muskulatur dort zu aktivieren. Immerhin singen wir stundenlang. Die schönen Melodien gehen mir noch Stunden später durch den Kopf. Der Nachhall von intensiver Rhythmus und Klangarbeit.
Am Sonntag morgen klingelt um 7.15 Uhr der Wecker. Unausgeschlafen treffe ich die anderen Sänger zur Generalprobe in der Kirche. Die Sing- und Dehnübungen machen wach. Beim Swing-Gottesdienst um 10 Uhr steuern wir zwölf Lieder bei, 33 Minuten ein anderes Klangerlebnis. Fast 9 Stunden haben wir diese Werke einstudiert. Einige Töne klappen nicht perfekt. Chorleiterin Regine Schütz lächelt uns nach dem Auftritt an. Sie ist sehr zufrieden mit dem Auftritt. "Jetzt würde normalerweise der Feinschliff losgehen", sagt sie lachend. Aber um Perfektion geht es nicht. Für mich war es ein klasse Wochenende. Durch den Workshop habe ich den Groove ausprobiert. Kostenlose Stimmbildung und gute Laune inklusive. Wochenend-Workshops sind eine Chance, andere Musik in die Kirche zu tragen.