November 2016. Eine Umzugsfirma, die auf Seniorenumzüge spezialisiert ist, schickt uns einen kleinen Transporter. Einen Ford Transit, den kleinsten aus der Fahrzeugflotte. "Ist nur zur Probe mit dem Umzug", erklärt meine Mutter den Arbeitern, die nur einen Tisch, zwei alte Stühle und das Bett einpacken sollen. Und ein paar alte Töpfe. Den am besten deutschsprechenden Möbelpacker nimmt sie sich extra zur Brust: "Gucken Sie sich gut um hier, Sie müssen mich in einem Jahr wieder zurück bringen, wenn es nicht klappt." Zur Probe? Mit 87? Ob man da noch viel ausprobieren kann? Ja, man kann. Unsere Eltern sind ja nicht wie wir zehn Mal im Leben umgezogen. Woher sollen sie denn wissen, ob ein Neuanfang gelingt? "Ich probier‘ das mit Stuttgart", sagt meine Mutter allen, die ungläubig fragen, ob sie wirklich, wirklich das schöne Haus verlassen wolle. Ein Haus! In der Nähe vom Bodensee! Nach 50 Jahren? Das macht man doch nicht! Die Vokabel "probieren" klingt wie eine Besänftigungsformel.
Im Nachhinein entpuppte sich das Jahr "Probezeit" als die beste Idee von allen. Schon allein, weil sie signalisierte: Das Leben ist nicht vorgezeichnet. Man kann es gestalten, selber entscheiden, auch wenn oft Krankheiten, finanzielle Nöte, oder sogar Todesfälle mitspielen. Im hohen Alter sind nicht mehr alle Optionen offen. Aber man kann noch eigene Entscheidungen fällen. Ein gutes Gefühl. Man nennt es Freiheit.
Ganz freiwillig ist es allerdings nicht, das Probejahr. Es ist der Kompromiss zwischen uns dreien. Meiner Mutter, die entschieden hat, auszuziehen – aber mit jedem Tag, an dem der Termin näher rückt, Respekt vor der eigenen Courage bekommt. Meiner älteren Schwester, die sich voller Tatendrang um die neue Bleibe gekümmert hat, um Mietverträge, Kautionen und Pflegevereinbarungen – aber doch innig verbunden ist mit dem Haus, sogar noch ein perfekt eingerichtetes Mädchenzimmer dort hat, mit Enid-Blyton-Büchern im weißen Schleiflack-Regal und Fotos vom Landschulheim an der Wand. Und mir, die ich am liebsten eine schnelle Entscheidung gehabt hätte – aber verstehe: Wenn die Mutter sich schnell entscheiden muss, sagt sie nein. Und dann reden wir wahrscheinlich erst dann wieder über das heikle Thema, wenn ein Notfall eintritt. Ein Knochenbruch, ein Autounfall. Also lieber jetzt zur Probe das Haus räumen. Lieber jetzt, wo sie noch weitgehend gesund ist. Lieber so lange pendeln zwischen dem alten und dem neuen Leben, bis alle soweit sind, einen gemeinsamen Schnitt zu machen.
Abschied nehmen vom Elternhaus
Wann ist nun der richtige Zeitpunkt für den Abschied vom Elternhaus? Nunja: Es gibt ihn nicht. In vielen Fällen bleiben die Eltern zu lange zu Hause und lassen sich nicht helfen – bis die ganze Fassade aus unzähligen Kompromissen und Notlösungen zusammenbricht und Mutter oder Vater in die Kurzzeitpflege der Kliniken geraten – dehydriert und verwirrt. Es ist aber auch vollkommen individuell, was richtig ist. Unser Weg ist für uns richtig, nicht unbedingt für alle. Die Fragen sind endlos: Ab wann soll eine Pflege ins Haus kommen? Ist betreutes Wohnen nicht besser? Wie machen wir das mit dem Essen? Es gibt keine Standardlösung, das ist sicher. Man muss rechtzeitig darüber reden, den Weg langsam und gemeinsam gehen – das ist der vielleicht wichtigste Punkt. Viele räumen das Haus erst aus, wenn die Eltern tot sind.
Ich bin froh, dass mir das erspart geblieben ist. Das Elternhaus ausräumen und die Eltern nicht mehr fragen können, was da an Geschichten war mit dieser Puppenstube. Mit jener Urkunde. Wie traurig es sein muss, Fotoalben alleine ausräumen zu müssen, ohne noch einmal gemeinsam darin zu blättern zu können. Ich hätte sicher viele Tränen vergossen.
Auch wir haben spät begonnen, über das Thema "Haus" zu sprechen. Dabei hätte es so viele Anlässe gegeben. Mein Vater starb, als meine Mutter dreiundsiebzig Jahre alt war. Wie schlau wäre es gewesen, schon damals gemeinsam über einen Neustart zu sprechen. Aber wir Töchter waren zu sehr mit unserem eigenen Leben beschäftigt. Ich war frisch geschieden mit zwei kleinen Kindern. Meine Zeitung, "Die Woche" hatte von heute auf morgen pleite gemacht. Für mich war das Haus eine Zuflucht. Gerade jetzt, wo mein Vater gestorben war, wo ich selber in eine finanzielle Schieflage geraten war, fuhr ich so oft es ging mit meinen Kindern hin. Die Totenstille wurde von Kinderstimmen übertönt. Es war gut so. Aber es war auch eine vertane Chance: Mit dreiundsiebzig hätte meine Mutter noch viel mehr Wurzeln an einem neuen Ort schlagen können.
Mit einundachtzig hatte sie dann einen leichten Herzinfarkt, zwei Jahre später einen leichten Schlaganfall. Beide Male: große Panik bei den Töchtern. Mit dem nächsten ICE runter zum Bodensee, das Handy immer am Ladekabel, bloß keinen Anruf verpassen, das typische Schicksal aller berufstätigen Kinder. Wie oft höre ich im Großraumwagen diese Handy-Telefonate: "Bitte geben Sie mir den Oberarzt! Nein, ich kann nicht in 30 Minuten da sein. Wie, Sie wollen morgen schon meine Mutter entlassen? Das geht nicht." Ich hatte solche Dialoge bereits unzählige Male mitgehört, nun traf es uns selber. [...] Als sie den Schlaganfall hatte, waren wir zufällig in den Ferien dort. [...]
Wenn der Boden unter den Füßen wankt
Es waren seltsame Sommerferien im Elternhaus ohne Oma. Die Vormittage verbrachten wir am Krankenbett, nachmittags machten wir Ausflüge an den Bodensee – wie immer im Sommer. In Immenstaad, in einem Kletterwald, den wir schon oft besucht hatten, merkte ich zum ersten Mal, dass sich bei mir etwas verändert hatte. Ich stand oben auf dem schwankenden Seil und musste direkt wieder absteigen. Ich bin normalerweise der Typ "schwindelfrei", noch nie hatte mir der Blick in den Abgrund etwas ausgemacht. Doch jetzt musste ich wie ein doofer Angsthase zurück zum sicheren Buchenstamm, die Leiter hinunter zur Erde. Mir fehlte der Boden unter den Füßen. Die Kinder mussten alleine weiter klettern. Da merkte ich zum ersten Mal: das Fundament, es schwankt. Der Vater tot, die Mutter lebensbedrohlich erkrankt – und das Haus?
Ach, hätten wir es damals nur verkauft. Es wäre gut gewesen. Aber wir haben es nicht getan und daran ist auch dieser blöde Nachmittag auf dem Seil schuld. Als ich wieder ins Elternhaus kam, war ich froh, dass es noch stand. Hinzu kam: Mir fehlte die Fantasie, wo meine Mutter wohnen könnte, wenn sie es im Haus nicht mehr schaffen würde. [...]
Das Alter planen
Eine Sozialarbeiterin aus einem Alt-Jung-Wohnprojekt, die ich mit meinen Journalismuschülern vor Jahren interviewt hatte, sprach Tacheles: "Ihre Mutter hat jetzt zwei gelbe Karten bekommen. Sie werden sehen: Je älter sie wird, desto höher der Aufwand, das Eigenheim in Schuss zu halten, und desto geringer der Gewinn." An den Satz habe ich später oft gedacht. Aber sie sagte auch, wir seien reichlich spät dran mit der Idee, das Haus zu verkaufen, und stattdessen eine seniorengerechte Wohnung zu erwerben. Die seien alle schon verkauft, bevor der erste Spatenstich erfolgt, wusste sie, Wartelisten bis unendlich, und ich glaubte ihr sofort. Zinsen im Dauertief, Schwaben haben Geld. Alle Immobilien, die fürs Alter gerecht wären, schon weg. Und für das Altjung-Projekt, das sie selber managte, sei meine Mutter leider schon ein bisschen zu alt. Das saß.
Man hört solche Sätze und trägt sie dann vor, wenn es passt. Natürlich hätte man auch damals, vor fünf Jahren, etwas gefunden, Zinsniveau und Immobilien-Flaute hin oder her. Aber es war offenbar für uns alle drei noch zu früh. Und so trainierte meine Mutter mit der ganzen Entschlossenheit einer schwäbischen Nachkriegs-Trümmerfrau – damit sie wieder zurück in ihr Haus konnte. Ging jeden Tag zur Orthoptistin, um ihren Augen die Doppelbilder wieder abzutrainieren und strampelte auf dem Hometrainer, den mein Vater in den 80er gekauft hatte. Wir räumten die losen Teppiche und andere Stolperfallen weg, ließen den Schreiner neue Handläufe an der Treppe anbauen und Haltegriffe in der Dusche. Hauptsache, der Status quo bleibt erhalten. Es war fast ein Wunder, dass wir es dann doch noch packten. Es war kein Notfall, der das Thema auf den Tisch brachte. Es war ein schleichender Prozess. Es war das ganz normale Altern. Von uns allen dreien.
Mit den Jahren wird alles mühsamer
Meine Mutter, mittlerweile 86, hatte ihre Sehkraft, das Herz und die Muskeln dank der Reha zwar wieder soweit gestärkt. Sogar Auto konnte sie wieder fahren. Aber das Leben allein auf dem Dorf wurde immer mühsamer. Wenn sie den Motor startete, bekam sie vor Angst klatschnasse Hände. [...] Und wir Töchter, beide in den 50ern, hatten ein schlechtes Gewissen. "Man müsste öfter hin fahren". Die weite Strecke fällt auch uns bald immer schwerer. [...]
Dann wird meine Schwester krank, schwer krank. Wir alle kümmern uns erstmal um sie, auch meine Kinder, der große macht gerade seinen Führerschein. Seine ersten Fahrten, "begleitet" mit der Mama auf dem Beifahrersitz, unternahmen wir nicht nach Ravensburg zur Oma. Sondern ins Krankenhaus zur Tante. Jetzt war der Punkt gekommen, ernsthaft miteinander zu reden. Wollten und könnten wir wirklich dieses Haus in Oberschwaben aufrechterhalten? Was würde passieren, wenn eine von uns dreien den nächsten Rückschlag erleidet, die nächste Krankheit? Wie viel schlauer wäre es, die alte Mutter in unsere Nähe zu holen. Und so schauen wir uns im Frühjahr 2016 zu dritt diese Senioren-Wohnanlage in Stuttgart an. Ganze 200 Kilometer von Ravensburg entfernt. Ganz nah bei meiner Schwester. Und viel, sehr viel näher an Köln, mit ICE-Anschluss. Natürlich ist es hier wie in Ravensburg: Es gibt Wartelisten. Aber meine Schwester, inzwischen von ihrer Krankheit genesen, kümmert sich, insistiert, telefoniert. Und im August 2016 kommt der Anruf: eine Wohnung ist frei.
Ein Umzug auf Probe
Zu schnell. Klar. Es ist immer zu schnell. Meine Mutter sagt: Das reicht doch noch nächstes Jahr. Lasst mich doch Weihnachten noch im Haus feiern. Wir sagen: "Du wirst schon siebenundachtzig. Es wird doch nicht leichter mit dem Umziehen. Und wer weiß, wann der nächste Anruf kommt. Wenn wir die Wohnung jetzt nicht nehmen – rutschen wir auf der Warteliste nach unten." So kommt es zum "Umzug auf Probe". Und zum Satz meiner Mutter zum polnischen Möbelschlepper. "Sie holen mich dann in einem Jahr wieder ab."