Für Bukow ist der Jugendliche eine "tickende Zeitbombe". Dass die Jagd für den Kommissar kein Fall wie jeder andere ist, hat jedoch einen anderen Grund: In Kenos Schlepptau befindet sich Bukows Sohn Samuel; und es ist absehbar, dass die Flucht kein gutes Ende nehmen wird. Die "Polizeiruf"-Krimis aus Rostock sind seit jeher ganz besondere Filme, weil schon allein die Kombination des impulsiven Bukow und der analytischen König eine reizvolle Mischung darstellt. Da die LKA-Kollegin durchaus dickköpfig sein kann, genügt oft ein kleiner Anlass, um die Stimmung kippen zu lassen; der Kommissar ist seit der Trennung von seiner Frau ohnehin extrem dünnhäutig und wirkt diesmal besonders erholungsbedürftig. Die Probleme mit seinem bockigen Sohn (Jack Owen Berglund) und dessen Freundschaft zu Keno tragen auch nicht gerade zur guten Laune bei, selbst wenn Bukow zu Beginn noch nicht ahnen kann, wozu Keno fähig ist. Langjährige "Polizeiruf"-Fans kennen natürlich auch die vielschichtige Vorgeschichte des Ermittlerduos. Die Zusammenarbeit startete denkbar ungünstig, weil König den Kollegen überwachen sollte. Später deckte er sie, nachdem sie einen Mann verprügelt hatte; als sie sich zu der Tat bekannte, musste er sich wegen der Falschaussage verantworten. Kein Wunder, dass das Verhältnis der beiden mehr als angespannt ist. Zu allem Überfluss bittet Bukows Chef (Uwe Preuß) sie angesichts der persönlichen Betroffenheit des Kommissars, ein Auge auf ihn zu haben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
König macht keinen Hehl daraus, dass sie die Erziehungsmethoden des Kollegen erheblich missbilligt, und damit ist der Film bei seinem zweiten Thema, denn auch in der sozialen Einrichtung prallen zwei Haltungen aufeinander: Die Betreuerin der Wohngruppe setzt auf Toleranz und Verständnis, während der Leiter der Einrichtung eher der Typ "klare Kante" war. Die Pädagogin wirkt in ihrer Verkörperung durch Christina Große zwar etwas naiv, aber der Film hält sich mit einer Bewertung zurück und beschränkt sich darauf, die Ereignisse zu schildern. Mindestens so bedeutsam wie die beiden Hauptfiguren ist daher der Gegenspieler, und diese Konstellation ist durchaus mutig vom NDR. Natürlich muss Junis Marlon den Film nicht allein tragen, aber als Antagonist mit vielen Szenen lastet doch ziemlich viel Verantwortung auf seinen Schultern. Der junge Mann macht seine Sache allerdings ausgezeichnet, selbst wenn ihm die Rolle als Teenager, der nach vielen Jahren in diversen Heimen auf die Herausforderungen des Lebens aggressiv und voller Zorn reagiert, nicht viel Spielraum lässt. Dass er auch anders kann, zeigt er demnächst an der Seite von Uwe Kockisch in dem bedrückenden Drama "So weit das Meer" (ZDF, 15. April). Auch in "Kindeswohl", wie der zynisch anmutende Titel des Krimis lautet, wird dank der sensiblen Inszenierung durch Lars Jessen deutlich, dass Wut zwar der Motor, aber Sehnsucht der eigentliche Antrieb für Kenos Verhalten ist: Gemeinsam mit Samuel macht er sich mitten im eiskalten Winter auf den Weg nach Polen, wo er seinen "Bruder" vermutet; geschickt legt Jessen eine falsche Fährte, indem er bei der Umsetzung des Drehbuchs (Christina Sothmann, Elke Schuch und Jessen selbst) die Anführungszeichen nicht mit inszeniert.
Wer an diesem Wochenende den Samstagskrimi "Polly" aus der ZDF-Reihe "Kommissarin Lucas" und den "Polizeiruf" anschaut, wird feststellen, dass beide ihre Geschichte vor exakt dem gleichen authentischen Hintergrund erzählen: Deutsche Einrichtungen für schwer erziehbare Jugendliche schicken Teenager ins Ausland, wo die Pflege bedeutend preiswerter ist. Das ist zwar ein ziemlich gutes Geschäft, aber die Betroffenen müssen sich fühlen, als würden sie wie Müll entsorgt. König wird daher vielen Zuschauern aus dem Herzen sprechen, wenn sie über das "Scheiß-System" schimpft, "das so mit seinen Kindern umgeht". In beiden Fällen bilden die moralisch zwar fragwürdigen, juristisch jedoch offenbar völlig legalen Maßnahmen aber nur den Rahmen der Handlung, sodass die Krimis durchaus nebeneinander funktionieren, zumal sie gänzlich andere Schwerpunkte setzen. Dass ARD und ZDF sie innerhalb von 24 Stunden ausstrahlen, ist allerdings ein kurioser Zufall. Beiden Filmen gemeinsam ist dagegen die inhaltliche Ausrichtung; würde "Kindeswohl" nicht mit einem Mord beginnen, wäre auch dieser Film vor allem ein Sozialdrama.
Für Jessen ist das ein durchaus ungewöhnlicher Stoff. Der Regisseur, der wegen seines täuschend echt gemachten, aber rein fiktiven musikalischen Dokumentarfilms "Fraktus" bei einer leidenschaftlichen Minderheit Kultstatus genießt, steht vor allem für trocken humorvolle norddeutsche Komödien wie "Butter bei die Fische" (2009), "Fischer fischt Frau" (2011) oder "Vadder, Kutter, Sohn" (2017) sowie mehrere "Tatort"-Episoden aus Münster, von denen aber beispielsweise "Die chinesische Prinzessin" ebenfalls ein todernster Krimi war. In seiner ersten Arbeit für den "Polizeiruf" aus Rostock ist die Spannung zwar vor allem emotionaler Natur, resultiert aber auch aus der Frage, ob und wann die Zeitbombe hochgehen wird; kein Wunder, dass der Film zwischendurch zur Tragödie wird.