Was bedeutet es für Sie, die Karwoche in Jerusalem mitzufeiern?
Wolfgang Schmidt: In der Karwoche und an Ostern wird für mich dieser Ort Jerusalem bedeutsam. Natürlich ist das ganze Heilige Land voller Spuren Jesu. Auf Schritt und Tritt begegnet man biblischen Überlieferungen. In der Karwoche verdichtet sich das noch einmal, zumal wir an der Erlöserkirche in unittelbarer Nähe zur Grabeskirche sind. Die Ausgrabungen unter unserer Kirche lassen schön erahnen, wie das hier zur Zeit Jesu war, was es mit Golgotha auf sich hat, diesem Hügel inmitten eines großen Steinbruchs. Das wird in der Karwoche besonders anschaulich. Insofern ist das Feiern von Passionszeit, Karwoche und Ostern in Jerusalem für mich etwas ganz Besonderes. Natürlich wird in dieser Woche auch die Präsenz der Kirchen und Christen besonders deutlich, weil besonders viele Gottesdienste gefeiert werden. Viele Menschen pilgern ausdrücklich zum Osterfest nach Jerusalem. Am Karfreitag nach dem orthodoxen Kalender – das überschneidet sich ja nicht immer mit unserem – ist stundenlang in kurzen Abständen eine Glocke an der Grabeskirche zu hören. Das gibt dem Karfreitag eine besondere Färbung.
Was geschieht in punkto Ökumene angesichts von zwölf traditionellen, in Jerusalem alteingesessenen Kirchen? Finden gemeinsame Gebete statt?
Schmidt: Wir haben zwei innerprotestantische Feierlichkeiten: Das eine ist der Gründonnerstag bei uns hier in der Kirche, wo Palästinenser, Engländer, Deutsche, Dänen, Schweden, Finnen und Schotten zusammen Gottesdienst feiern. Das Zweite ist am Karfreitag eine gemeinsame Prozession der evangelischen mit der anglikanischen Kirche um 6.30 Uhr frühmorgens; seit vielen Jahren findet die statt. In der Vergangenheit war ich wiederholt zur Fußwaschung in der Dormitio-Abtei, die bewusst einen deutschen Evangelischen dazu einlädt.
Besuchen Sie außerdem Gottesdienste anderer Kirchen?
Schmidt: Natürlich ist man bei der Palmsonntagsprozession dabei.
"Es sind unglaublich viele Menschen dabei"
Beschreiben Sie bitte diese von der römisch-katholischen Kirche angeführte Prozession am Nachmittag des Palmsonntags, an der schon mehr als 10.000 Menschen teilgenommen haben!
Schmidt: Alle großen kirchlichen Ereignisse haben Ansätze von Volksfestcharakter. Es sind unglaublich viele Menschen dabei. Da hat man nicht diese Konzentration im Gebet wie bei den Gruppen, die durch die Via Dolorosa ziehen. Es ist ein Volksereignis. Es kommen die arabischen Christen dazu, und die Reisenden, die dabei sein wollen.
Jahr für Jahr bangen palästinensische Christen aus den besetzten Gebieten – aus Bethlehem, Jericho oder Gaza-Stadt – in der Passionszeit um die Reiseerlaubnis: Werden ihnen israelische Stellen die sogenannten Passierscheine ausstellen, um legal nach Jerusalem reisen zu können?
Schmidt: Normalerweise bekommen Christen automatisch eine Einreiseerlaubnis in der Weihnachts- und Osterzeit. Das wird durch die Kirchen organisiert. Man holt sich den Erlaubnisschein im Pfarrbüro ab. Sie können also im Allgemeinen an diesen Feierlichkeiten teilnehmen.
Lassen Sie uns über die Lage der palästinensischen Christen, vor allem in Ost-Jerusalem, sprechen. Das katholische Menschenrechtszentrum St. Yves bearbeitet Hunderte von Fällen wie Hausabriss, Verweigerung von Baugenehmigungen oder Schwierigkeiten bei der Kinderregistrierung, um nur drei Facetten israelischer Maßnahmen zu nennen. Was bekommt man als deutscher Propst davon mit?
Schmidt: Das bekommen wir sehr unmittelbar über unsere Mitarbeiter aus dem West-Jordanland mit. Wir haben augenblicklich den Fall eines Mitarbeiters anhängig, der seit 40 Jahren bei uns tätig war, ein sehr verlässlicher Mensch. Wir kriegen nicht heraus, warum ihm jetzt die Einreise verweigert wird. Egal, wo man vorstellig wird, heißt es: Bei uns gibt es keinen Eintrag. Man wird an eine andere Stelle verwiesen, wo man dieselbe Antwort erhält. Das zieht sich nun schon viele Wochen hin. Der Mann ist ohne Arbeit. Wir können nicht ununterbrochen den Lohn weiterzahlen. Solche Schwierigkeiten bekommt man hautnah und direkt mit. Gestern bin ich selbst bei einer Veranstaltung in Ramallah gewesen. Auf dem Heimweg stand ich eine geschlagene Stunde im Wartestau vor dem israelischen Armee-DCO-Kontrollpunkt bei Bet-El, der nur mit einer Person besetzt war.
Zurück zu den Kar- und Ostertagen: Ist Ihnen in Ihrer Jerusalemer Zeit eine Stelle aus der Bibel neu oder anders aufgegangen?
Schmidt: Das ist schwer zu sagen. Man unterliegt ja ständigen Wandlungen und Veränderungsprozessen. Was hier vor Ort eben sehr eindrücklich ist: Man hat hier eine Idee vom räumlichen Umfeld. Für mich spielt an sich die Historizität der Orte keine herausragende Rolle – ist das nun genau hier oder dort gewesen? Aber speziell in der Karwoche und an Ostern kann ich mir diese Örtlichkeiten als historisch zutreffend sehr gut vorstellen. Das habe ich mir vorher nicht so ausgemalt. Hier bekommt man ein Gefühl dafür: Dieser Ort kann, muss, wird es gewesen sein. Hier passt vieles zusammen.
Zu welchen Gottesdiensten raten Sie Touristen und Reisenden?
Schmidt: Was ich eindrücklich finde: Am Karfreitag werden um 15 Uhr bei uns in der Erlöserkirche die Sieben letzten Worte Jesu von Joseph Haydn aufgeführt – eine musikalische Andacht zur Todesstunde Jesu. Das ist eindrücklich, weil die Musik nochmal ganz anders wirkt. Worte werden in dieser Feier sehr sparsam gebraucht. Damit hat sie einen sehr meditativen Charakter.
Und wie lautet Ihr Tipp für Ostern?
Schmidt: Sehr schön ist die Auferstehungsfeier morgens auf dem Ölberg im Garten des Archäologischen Instituts bei der Himmelfahrtkirche. Da ist man im Freien, schaut hinüber nach Jordanien und hinter den Bergen geht die Sonne auf, während die Ostertexte gelesen werden und Abendmahl gefeiert wird. Das ist sehr eindrücklich.
"Ich wünsche mir eine wirkliche Zukunftsperspektive für die einheimischen Christen"
Wie früh ist der Gottesdienst? Kommen Touristen dazu?
Schmidt: Er beginnt um 5.30 Uhr. Er ist sehr gut besucht und hat die für uns charakteristische Mischung aus Gemeindemitgliedern und Reisenden.
Wie lautet Ihr Osterwunsch für die Christen Jerusalems?
Schmidt: Mein Wunsch wäre wirklich, dass Christen frei von dem politischen Druck des israelisch-palästinensischen Konflikts ihr Glaubensleben gestalten und damit eine positive Zukunftsperspektive aufbauen können. Ich glaube, im Ganzen herrscht unter den Christen doch eher eine depressive Stimmung, weil man merkt, man wird prozentual und in absoluten Zahlen weniger. Das gilt insbesondere für Jerusalem und das West-Jordanland. In Israel haben wir viele ausländische Christen. Sie leben dort als Arbeitsmigranten und sie erhöhen die Zahl der Christen. Die einheimischen Christen und die, die ihre Wurzeln bis ins erste Jahrhundert und an die Ursprünge der Kirche zurückführen, empfinden jedoch, dass nach und nach das Christentum an Boden verliert. Da würde ich mir wünschen, dass die Umstände eine wirkliche Zukunftsperspektive eröffnen.
Können wir Christen in Deutschland da einen Beitrag leisten?
Schmidt: Wichtig ist es, Strukturen zu unterstützen, die für den Alltag der Christen wichtig sind: Bildung, Ausbildung und Beruf, Kultur, Gesundheitswesen. Das gibt gewisse Perspektiven, zu bleiben statt auszuwandern. Politisch könnte die Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas hilfreich sein, so wie es die Evangelische Kirche im Rheinland von der Bundesrepublik möchte. Das würde gegen eine weitere Erosion der Zwei-Staaten-Lösung helfen.