"Auf der Straße" (eine Wiederholung aus dem Jahr 2015) fügt sich nahtlos in diese Reihe ein: Thorsten Näter erzählt vom unverschuldeten Abrutschen einer älteren Frau in die Obdachlosigkeit. Florian Baxmeyer, Regisseur einer Vielzahl von Bremer "Tatort"-Beiträge, hat das Drehbuch mit großer Intensität umgesetzt. Dafür sorgt vor allem von Wedigo von Schultzendorff, der das Drama gerade in den Innenaufnahmen wie eine Reportage wirken lässt, weil seine Handkamera stets ganz nah an der Hauptfigur ist und die Ereignisse über ihre Schulter hinwegfilmt, sodass die Geschichte buchstäblich aus ihrer Perspektive erzählt wird.
Schon die Eröffnung führt direkt ins Thema ein: Auf einen Panoramablick, der Hamburg als nächtlich glitzernde Metropole zeigt, folgen Aufnahmen von Obdachlosen. So nah liegen Reichtum und Armut beieinander, suggerieren die Bilder, und das ist exakt die Geschichte des Films: Die Geschäfte laufen nicht so gut, sind die letzten Worte des Ehemanns von Hanna Berger; dann stirbt er. Die Herzkrankheit, an der er schon lange leidet, hat er ihr ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass sein Weinhandel pleite ist. Um den Schein zu wahren, hat er zu überhöhten Zinsen einen Kredit aufgenommen, und der sorgt dafür, dass die alte Dame von einem Tag auf den anderen alles verliert: Die Möbel werden gepfändet, die Eigentumswohnung wird zwangsversteigert; nun steht sie buchstäblich auf der Straße. Sozialleistungen lehnt sie ab; einerseits aus Stolz, andererseits, weil sie nicht will, dass sich die Behörden das Geld von ihrer Tochter zurückholen wollen – und das ist die Geschichte hinter der Handlung.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Vordergründig geht es auch weiterhin um Hannas sozialen Absturz und den typischen Teufelskreis: keine Wohnung, keine Arbeit; keine Arbeit, keine Wohnung. Ungeschönt zeigt Baxmeyer die Nächte im überfüllten Wohnheim für Obdachlose, wo sich betrunkene Frauen auch schon mal prügeln; quasi im Handumdrehen wird aus Hanna einer jener Menschen, um die man im Großstadtalltag einen großen Bogen macht, weil sie zusammenhanglos vor sich hin brabbeln oder im Suff ausfallend werden. Diese unangenehm glaubwürdig wirkenden und von einer sparsamen, aber ungemein stimmigen Musik (Annette Focks) untermalten Szenen allein hätten schon genügt, um "Auf der Straße" sehenswert zu machen, doch die große Stärke von Näters Drehbuch liegt in der beiläufigen Integrierung einer zweiten Ebene: Hannas Tochter Elke (Margarita Broich) hat schon vor vielen Jahren den Kontakt zur Mutter abgebrochen. Der Bruch ist derart endgültig, dass sie ihrer Tochter (Amber Marie Bongard) und ihrem Lebensgefährten Lars (Dirk Borchardt) erzählt hat, ihre Eltern seien tot. Auch diese Ebene wird mit einem Bild eingeführt, dass bereits alles sagt: Hanna ruft Elke an, um sie über den Tod des Vaters und den Termin der Beisetzung zu informieren, und hinterlässt die entsprechende Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Elke ist zuhause, sie hört die Botschaft, aber die Kamera zeigt sie nur schemenhaft im Hintergrund. Damit wäre dieser Teil der Handlung eigentlich schon zu Ende, aber der erfahrene Näter, Autor und Regisseur unzähliger Krimis, weiß natürlich, wie man Spannung schürt: Lars redet Elke ins Gewissen, sie macht sich auf die Suche nach Hanna, von deren sozialem Absturz sie keine Ahnung hatte, und holt sie zu sich. Aber das ist noch längst nicht das Ende der Geschichte, denn da ist ja noch die alte Schuld, die einst zum Zwist zwischen Mutter und Tochter geführt hat und selbstredend noch heute zwischen ihnen steht.