Im Licht bleibt nichts verborgen. Deshalb sind auch Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit immer mit der Vorstellung von Klarheit, von Helligkeit verbunden. Am heutigen Sonntag Invokavit beginnt die Passionszeit, die Vorbereitung auf das Osterfest, die Erinnerung an Christi Leid und seine Auferstehung. Die siebenwöchige Fastenaktion der Evangelischen Kirche steht in diesem Jahr unter dem Motto "Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen" und lädt dazu ein, in dieser Zeit bewusst zu leben, sich zu fragen: Wie geht das ohne die kleinen Notlügen des Alltags? Kann man wahrhaftig sein und wie viel Ehrlichkeit kann man überhaupt selbst und im Umgang miteinander vertragen?
Hell ist es an diesem Sonntagvormittag auch im Gotteshaus, einem modernen, offenen Saalraum, der mit einer Glasfront mit bunten Fensterflächen zum Rhein geöffnet ist. Was fällt einzelnen Gemeindemitgliedern der evangelischen Kirchengemeinde in Oestrich-Winkel im Eröffnungsgottesdienst zum Thema der Fastenaktion ein? Ehrlichkeit begegnet uns in den kleinen Dingen des Alltags. Tim, ein kleiner Junge, sagt: "Ehrlich, das war ich gestern, als ich zugegeben habe, den letzten Keks gegessen zu haben." Aber so einfach ist das mit diesem Begriff doch nicht. "'Jetzt mal ehrlich', wer einen Satz so anfängt, will meistens doch nur ungefiltert seine Meinung sagen", sagt Maxin Bakolo. Man könnte es auf die Spitze treiben mit der Frage von Maria Werner-Niemetz: "Was ist denn schon Wahrheit?"
In den Anrufungen des Kyrie wird in Worte gebracht, wie schwierig es doch sein kann, die eigenen Gefühlslagen zulassen, aus Angst Schwäche zu zeigen. Oft falle es Menschen schwer, sich einzugestehen, Hilfe zu benötigen und sie auch anzunehmen. Pfarrerin Juliane Schüz spricht die Gewissheit aus, dass Gott sieht, wo wir Masken aufsetzen, wo wir Angst haben, ehrlich zu uns selbst zu sein. Im Kyrie bittet die Gemeinde um Gottes Gnade, um Mut und Kraft und um seine Weisheit. Die Pfarrerin versichert, dass für alle Gläubigen Jesu Versprechen an seine Jünger gelte: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." (Johannes 8,32).
Gemeindemitglieder erzählen von eigenen Erfahrungen. Wirkten die kleinen Lügen des Alltags auch als sozialer Kitt, so fragt sich Claudia Würz, ob dies auch für Lügen vor sich selbst gelte. Und wie sehr müsse man seinem eigenem Ideal hinterherrennen? Was würde eigentlich passieren, wenn man das Ideal über Bord wirft, zu seinen Schwächen steht? Das setzt Vertrauen voraus. Wahrheit müsse liebevoll eingebettet sein. Erst, wenn man sich sicher und liebevoll aufgehoben fühle, könne man schwach und ehrlich zu sich selbst sein. Barbara Petry erzählt, wie sie sich in ihrer früheren Ehe eingerichtet hatte, ohne wahr haben zu wollen, dass sie längst zerbrochen war. Aus den Erfahrungen eines Arztes, wie schwer es Suchtkranken fällt, sich selbst ihre Krankheit einzugestehen, berichtet Heinz-Georg Bialonski.
Wenn das Lebenskonzept eine Lüge ist
Die Lieder des Gottesdienstes werden von dem Chor Neue Rheingauer Kantorei mit Solosängerin Dunja Koppenhöfer stimmungsvoll begleitet. Sie alle haben was mit Wahrheit zu tun und mit Licht. Denn die Wahrheit ist hell. Pfarrerin Elke Stern-Tischleder trägt den Lesungstext 2. Sam. 12, 1-13 vor. Von Lug und Trug erzählt die biblische Geschichte. König David versucht den Ehebruch mit Batseba zu vertuschen, indem er deren Ehemann Uria um sein Leben bringt. Im Folgenden wird berichtet, wie der Prophet Nathan dem König David die Augen für sein Verbrechen durch ein Gleichnis öffnet.
So thematisiert die Predigt von der Kuratoriumsvorsitzenden der Fastenaktion und Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler Selbst- und Lebenslügen. Die schmerzhaften Wahrheiten, die sie verdecken sollen, könne man nur durch eigenes Handeln bekämpfen. Die Bischöfin appelliert in ihrer Predigt, sich nicht weiter selbst zu belügen. Natürlich sei es bequem, unschöne Wahrheiten zu vermeiden. "Wir befinden uns in einer Welt, in der die Lüge pathologisch gelebt wird. In sozialen Netzwerken tummeln sich mental asoziale Menschen, die andere vernichtend attackieren", sagt Breit-Keßler. Es zähle nur noch die eigene, empfundene Meinung, das eigene Bild von sich und anderen, unabhängig von der Realität. Der ganze Wahnsinn zeige sich in dem Begriff "Alternative Fakten".
Manchmal braucht es einen anderen Menschen, der einem die Augen öffnet, wie der Prophet Nathan dem König David in der biblischen Geschichte. Durch sein Gleichnis konfrontiere er David mit seinem Ehebruch und den Verbrechen an Uria, den er in den Tod geschickt habe, und Batseba, die er geschwängert und den eigenen Wünschen unterworfen habe, erzählt die Bischöfin. Der Prophet Nathan mache David deutlich: "Dein Lebenskonzept ist eine einzige Lüge. Und das wird Dich kaputtmachen. Du wirst krank werden und Du wirst sterben, wenn Du Deine Wahrheit und Dein Leben verleugnest", so die Bischöfin. "Wir haben diesen Nathan aber auch in uns selbst. Der rumort in uns, klopft an unser Gewissen und lässt einen ehrlich werden." Diesem Impuls zu folgen, könne dazu führen, sich selbst zu erkennen und mit Gottes Hilfe ein wahrhaftiges und ehrliches Leben zu führen.
"Authentisch, das ist ein Modewort"
Heutzutage fände man es ganz toll, mit sich stimmig und "authentisch" zu sein. Sich selbst anderen ständig in ganzer Fülle zuzumuten, könne aber auch nicht das Ziel sein. "Das bedeutet, sich nicht selbst und die eigene Befindlichkeit, das eigene So-Sein zum Zentrum des Handelns zu machen", sagt Breit-Keßler. Dabei könne man sich Gottes Liebe sicher sein in Bezug auf die eigenen glanzvollen Seiten und unerfreuliche Abgründe. Gott könne man nichts vormachen. Nur die Menschen könne man hinters Licht, also in die Finsternis statt in die Klarheit, führen. Für die Bischöfin ist das ein wichtiges Bild. "Da, wo man ehrlich mit sich und anderen umgeht, ist es hell. Das kann heftig sein, weil einem nichts mehr entgeht."
Doch in welcher Hinsicht können wir in den kommenden sieben Wochen versuchen, mit uns und unseren Mitmenschen ehrlicher zu sein? Einzelne Mitwirkende erzählen vor dem mit Blumen geschmückten Altar, was sie sich für die Fastenzeit vorgenommen haben. Arnd Brummer, Geschäftsführer der Fastenaktion, plädiert dafür, bei aller Wahrhaftigkeit den liebevollen Umgang miteinander nicht zu vergessen. Wahrheiten mitzuteilen sei wichtig, aber auch auf die Form komme es an. Auch bezieht sich Brummer auf den Theologen Paul Tillich, der sagte: Gott sei die Wahrheit, die wir allerdings nicht besitzen könnten, sondern nur bitten und beten könnten, ihr möglichst nahe zu kommen. "Wie wäre es, wenn wir uns in den kommenden sieben Wochen der Fastenaktion bewusst machen, dass wir die göttliche Wahrheit nicht gepachtet haben." Es gehe darum, auch die eigene Position zu hinterfragen. Andere möchten schauen, ob sie sich ihren Mitmenschen ehrlich auch in Schwächen und Stärken zeigen könnten. Pfarrerin Juliane Schüz will in der Fastenzeit Gottes liebevollen Blick zulassen und ermuntert dazu, anderen mit Ehrlichkeit und Liebe zu begegnen.
"7 Wochen Ohne" ist die bundesweite jährliche Fastenaktion der evangelischen Kirche zwischen Aschermittwoch und Ostern. In der Fasten- oder Passionszeit erinnern Christen an das Leiden und Sterben Jesu Christi und bereiten sich auf Ostern vor, auf die Botschaft von der Auferstehung. Die Aktion "7 Wochen Ohne" soll helfen, diese Wochen bewusst zu erleben und zu gestalten. Die Kampagne wurde vor mehr als 30 Jahren gegründet.
Koordiniert wird die Aktion von einem Projektbüro im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) in Frankfurt am Main. Traditionell greifen viele Kirchengemeinden das aktuelle Thema von "7 Wochen Ohne" auf und gründen Fastengruppen. Ein Kalender, ein Begleitbuch und Fastenmails bieten Anregungen für eine intensive Beschäftigung.