TV-Tipp: "Klassentreffen" (ARD)

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TV-Tipp: "Klassentreffen" (ARD)
6.3., ARD, 20.15: "Klassentreffen"
Mit Ausnahme von Beerdigungen gibt es gibt nur wenige Anlässe im Leben, die den Zahn der Zeit derart erbarmungslos vor Augen führen wie ein Klassentreffen.

Neben der Endlichkeit des Daseins bergen solche Begegnungen einen weiteren Schrecken, der sich in einer harmlosen und sogar nett gemeinten Bemerkung manifestiert: "Du hast dich gar nicht verändert!" Es hat schließlich seinen Grund, warum die Bertolt-Brecht-Figur Herr K. erbleicht, als sie diesen Satz hört; und natürlich fällt er auch im Rahmen dieses dritten Improvisationskunstwerks von Jan Georg Schütte. Mit "Altersglühen – Speed Dating für Senioren" hat der ansonsten vor allem als Schauspieler (etwa an der Seite von Pasquale Aleardi in den "Kommissar Dupin"-Krimis) bekannte Regisseur 2014 einen Maßstab gesetzt, der zu Recht mit dem Grimme-Preis geehrt wurde: Ein gutes Dutzend älterer Herrschaften trifft sich zur Partnerschaftssuche. Die Darsteller kannten nur die eigene Rolle, der Rest blieb ihrer Spontaneität und Improvisationsgabe überlassen. Das Ergebnis war ein unterhaltsames "Bäumchen, wechsle dich"-Spiel, in dessen Verlauf sich verblüffend authentisch wirkende Konstellationen ergeben. Der Film war zudem eine logistische Meisterleistung: Schütte hat die Darbietungen mit Hilfe von 19 Kameras in Echtzeit filmen lassen. "Wellness für Paare" (2016) ist ähnlich entstanden. Diesmal fanden sich die handelnden Personen überwiegend paarweise in einem Wasserschloss ein, wo gestressten Menschen Balsam für Leib und Seele zuteil wird. Der inhaltliche Reiz resultierte aus den zur Sprache kommenden Geheimnissen und unbequemen Wahrheiten, die es in den diversen Beziehungen gab.

"Klassentreffen" ist gewissermaßen die Schnittmenge dieser beiden erzählerischen Konzepte: Die Beteiligten kennen sich zwar, haben sich aber seit 25 Jahren nicht mehr gesehen. Die Reizpunkte setzt Schütte diesmal unter anderem durch die Konfrontation von Selbstbild und Fremdwahrnehmung. Anders als die beiden früheren Improvisationskunststücke wirkt das dritte Werk jedoch deutlich unstrukturierter. Zwar gab es auch in "Altersglühen" eine gewisse Sprunghaftigkeit, aber die lag in der Natur der Sache, weil die einzelnen Kapitel durch die zeitliche Vorgabe für die Speed-Datings zwangsläufig nur kurz waren. Diesmal hüpft der Film jedoch ohne Not von einem Gespräch zum nächsten. Trotzdem ergeben sich im Verlauf der Handlung einige rote Fäden, weil sich nach und nach die verschiedenen Geschichten zusammensetzen. Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Gesa und Thorsten (Annette Frier, Oliver Wnuk). Die beiden haben das Wiedersehen in einer Kölner Kneipe 25 Jahre nach der Abi-Feier organisiert und erleben die wohl größte Prüfung ihrer Ehe, weil die etwas verwirrte Marion (Jeanette Hain) rumerzählt, sie habe seit Jahren ein Verhältnis mit Thorsten und sogar ein Kind von ihm. Eine ähnlich zentrale Rolle spielt Krischi (Charly Hübner), der offenbar die deutlichste Wandlung von allen vollzogen hat. Er beteuert zwar, er sei kein Nazi, aber seine Ansichten über ein Reinheitsgebot für das deutsche Volk sorgen dafür, dass sein bester Freund aus Jugendjahren regelrecht entsetzt ist: Ali (Kida Khodr Ramadan) und Krischi waren einst wie Brüder.

Die weiteren Figuren bleiben eher oberflächlich und müssen sich mit Merkmalen begnügen. Ulli (Gudio Renner) findet endlich den Mut, sich als schwul zu outen; Astrid (Anna Schudt) war offenbar mit allen Jungs in der Kiste, hat aber niemanden fürs Leben gefunden;  Sven (Fabian Hinrichs), früher für seine bösen Streiche gefürchtet, unter denen vor allem die Schwächerein leiden mussten, hat sein Glück in Amerika gemacht; und Andi (Aurel Manthei) wirft seinem Deutschlehrer (Burghart Klaußner) bis heute vor, er habe mit einer Note sein Dasein verpfuscht. All’ das sind jedoch nur Augenblicke, die der Film einfängt, wenn sich die Beteiligten an der Theke, auf dem Klo, draußen vor der Tür oder an der Kegelbahn über den Weg laufen.

Spaß macht der Film vor allem wegen des Wiedererkennungseffekts; und das nicht allein aufgrund der naheliegenden Fragen nach Beruf und Familie. Selbstverständlich wird der Abend unter dem Einfluss von Alkohol nicht nur tränenreich, es kommt auch zu verspäteten Liebesbekenntnissen; alte Rechnungen werden beglichen, und wenn die früheren Mitschüler außer Hörweite sind, wird kräftig gelästert. Einzig Sven steht auch öffentlich dazu, dass er die Veranstaltung verlogen findet und die Anwesenden für "einsame kleine Gurken" hält.

Der Aufwand, den Schütte getrieben hat, war erneut enorm; diesmal waren sogar 32 Kameras und 24 Kameraleute im Einsatz, um die 18 Mitwirkenden auf Schritt und Tritt beobachten zu können. Weil man da leicht den Überblick verlieren kann, hat sich Schütte Unterstützung durch seinen Regiekollegen Lars Jessen geholt. Die eigentliche Meisterleistung liegt jedoch in der Zusammensetzung des Ensembles. Die meisten Mitwirkenden (unter anderem noch Elena Uhlig, Marek Harloff und Christian Kahrmann) sind Mitte der Siebzigerjahre geboren. Anja Kling, Nina Kunzendorf und Jeanette Hain sind zwar etwas älter, aber das fällt kaum auf. Als Gruppe sind die Mitwirkenden ohnehin jederzeit glaubwürdig. Am Schluss finden sich alle zum gemeinsamen Foto ein. Auf den T-Shirts, die sie nun tragen, steht "Dieses Leben hatte ich nicht bestellt!" Obwohl die Netto-Drehzeit nur gut vier Stunden lang war, standen Schütte 130 Stunden Material zur Verfügung, die er gleich auch noch zu einer Serie verarbeitet hat; ARD-Ableger One zeigt sie ab 8. März.