Er heißt "Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino" und analysiert das Muster gängiger Filme als moralische Sittenlehre: Einerseits seien die Geschichten die "Tagträume der Gesellschaft", andererseits sorgten sie dafür, dass bestimmte gesellschaftlich erwünschte Haltungen immer wieder aufs Neue bestätigt werden. Sascha Arango kennt diesen berühmten Aufsatz garantiert; zumindest wirkt "Borowski und das Glück der Anderen", als habe er Kracauers Thesen in eine "Tatort"-Handlung überführen wollen. Abgesehen davon steht ohnehin kein anderes Genre so sehr für die Wiederherstellung der Ordnung wie der Krimi.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zentrale Figur der Handlung ist das heutige Pendant zu Kracauers "Ladenmädchen": Supermarktkassiererin Peggy (Katrin Wichmann) beobachtet eines Abends, dass das Ehepaar Dell im Haus gegenüber offenbar was zu feiern hat. Weil unmittelbar zuvor im ersten Programm verkündet worden ist, dass jemand den mehrere Millionen Euro schweren Jackpot einer norddeutschen Lotterie geknackt habe, ist sie überzeugt, dass die Dells die Glücklichen sind. Als der Gewinn am nächsten Tag nicht abgeholt wird, bricht Peggy in das Haus der Nachbarn ein, um den Lottoschein zu suchen. Dabei wird sie vom Hausbesitzer überrascht, und weil sich der Mann über sie lustig macht, ermordet sie ihn mit seiner eigenen Pistole, die sie im Nachttisch gefunden hat. Sie gibt sieben Schüsse ab; Kriminologen sprechen in solchen Fällen von einem "Overkill" als Zeichen einer lange aufgestauten Wut. Die Polizei verhaftet jedoch die Ehefrau, Victoria (Sarah Hostettler).
Schon der Auftakt dieses Krimis aus Kiel verdeutlicht, dass Grimme-Preisträger Arango ("Der letzte Kosmonaut") ein ganz spezieller Film vorschwebte. Die Kamera nimmt einen langen Anlauf, fliegt in eine Siedlung, schlüpft durch ein Fenster und beobachtet Peggy zu den Klängen des Pink-Floyd-Klassikers "Breathe" bei einer wahren Zerstörungsorgie, als sie ihr Wohnzimmer mit einem Rasenmäher zu Kleinholz verarbeitet. Dann folgt eine Rückblende, "wenige Tage zuvor", der Fernseher läuft, und Peggy beobachtet die Freude im Nachbarhaus. Regisseur Andreas Kleinert und Kameramann Johann Feindt filmen das Fenster der Dells so geschickt, dass es ebenfalls wie der Bildschirm eines Flachbildfernsehers aussieht. Das Glück der Anderen führt Peggy nachdrücklich vor Augen, wie wenig glücklich ihr eigenes Dasein ist; trotz ihres Eigenheims und eines Gatten (Aljoscha Stadelmann), der zwar nicht sonderlich ehrgeizig wirkt, aber seiner Frau ein guter Ehemann zu sein scheint. Im Gegensatz zu Peggy ist der brave Elektriker Micha mit seinem Leben vollauf zufrieden und will gar keine "Ferien für immer"; das stachelt Peggy womöglich erst recht dazu an, am nächsten Tag diese unerhörte Tat zu begehen
Für Kleinert ("Klemperer – Ein Leben in Deutschland") ist "Borowski und das Glück der Anderen" ein eher ungewöhnlicher Stoff. Der Dramenregisseur, gleichfalls mit mehreren Grimme-Preisen geehrt (unter anderem für das berührende Alzheimer-Drama "Mein Vater"), dreht immer wieder Krimis; komische Momente enthalten seine Filme jedoch eher selten. Der 33. "Tatort" aus Kiel ist zwar weit davon entfernt, eine Komödie zu sein, aber viele Situationen sind auf fast schon satirische Weise überzogen; und das gilt nicht nur für Peggys Zerstörungswut im eigenen Wohnzimmer. Kurz nach Beginn der Rückblende schreddert sie bereits die Fernseherfernbedienung im Mixer, als wolle sie sich bereits jetzt für einen Streich rächen, den ihr später ein anderes Gerät spielt: Als sie erneut ins Haus der Dells eindringt, um nach dem Lottoschein zu suchen, und zwischendurch auf dem Sofa rastet, setzt sie sich auf die Fernbedienung der Musikanlage, woraufhin in voller Lautstärke Aram Chatschaturjans "Säbeltanz" losdonnert. Auch der erste Auftritt des Ermittlerduos ist grotesk: Eigentlich wollen Borowski (Axel Milberg) und seine Kollegin Sahin (Almila Bagriacik) in einem Hotel einen Zeugen vernehmen, aber weil sie sich in der Zimmertür irren, bringen sie unbeabsichtigt einen international schon seit Jahren gesuchten Gangster zur Strecke. Für beiläufige Heiterkeiten sorgen auch die mit quietschgrünen Sitzgelegenheiten und moderner Kunst ausgestatteten neuen Räumlichkeiten des LKA. Als Sahin mit Borowski plaudert, steht plötzlich der Chef (Thomas Kügel) im Raum: Weil die Kommissarin in Gedanken auf der Telefontastatur rumgetippt hat, konnte er alles mit anhören und hat sich über das Lebenszeichen gefreut. Zuvor hatte Sahin Borowski dazu überredet, sich bei einer Wohnungsbesichtigung als Lebensgefährte auszugeben. Szenen wie diese haben großen Anteil daran, dass Almila Bagriacik bereits bei ihrem zweiten Auftritt an der Seite von Axel Milberg mehr als nur die Nachfolgerin von Sibel Kekilli ist.
Schauspielerisch sind Kleinerts Filme ohnehin immer herausragend. Während sich an Sarah Hostettlers sehr spezieller Trauerverkörperung vermutlich die Geister scheiden werden, ist Katrin Wichmann als Kassiererin jederzeit sehenswert, zumal das Schicksal dieses Berufsstands realistisch geschildert wird. Peggy klagt darüber, dass sie für die Kunden quasi unsichtbar sei; auch Victoria Dell erkennt sie nicht, als die Kassiererin vor ihrer Haustür steht, obwohl sie regelmäßig in dem Supermarkt einkauft. Gegen Ende treibt der Film seine Geschichte allerdings etwas auf die Spitze; Peggy muss für ihren Ausbruch aus der gewünschten Ordnung ganz im Sinne der Analyse Kracauers einen bitteren Preis bezahlen. Auch zuvor hat Arango die Plausibilität der Geschichte geopfert. Dass die Kassiererin angesichts der Freude im Nachbarhaus sofort an den Lottogewinn denkt, sagt natürlich vor allem etwa über ihre eigenen Wünsche aus; aber die Vorstellung, dass im Sendegebiet des NDR abends selbstredend in jedem Haushalt das "Erste" läuft, ist irgendwie rührend.