TV-Tipp: "Wer ist Camille?" (Arte)

Alter Fernseher vor gelber Wand
Foto: Getty Images/iStockphoto/vicnt
TV-Tipp: "Wer ist Camille?" (Arte)
22.2., Arte, 20.15 Uhr
Vordergründig gilt die Reise der Suche nach verschollenen Erinnerungen, aber "Wer ist Camille?" wäre ein völlig untypisches Road-Movie, wenn die Geschichte nicht gleichzeitig auch von einer Reise nach innen erzählen würde.
Hauptfigur dieser Tragikomödie aus dem italienischen Teil der Schweiz ist die Buchhalterin Camille (Anna Ferzetti), deren Dasein voll und ganz auf ihren immer vergesslicher werdenden Vater Edoardo (Luigi Diberto) ausgerichtet ist; deshalb verliert sie auch ihren Job, weil sie dauernd zu spät kommt. Während ihr Bruder Ugo (Alessandro Tedeschi) den Erzeuger lieber heute als morgen in einem Heim unterbringen würde, wagt Camille einen letzten verzweifelten Versuch, Edoardos Gegenwart mit seiner Vergangenheit zu verknüpfen: Der Alte sucht in letzter Zeit ständig nach Camille, und das gern auch mal mitten in der Nacht im Gartentümpel. Seine zunächst völlig ratlose Tochter erkennt schließlich, dass damit offenbar nicht sie gemeint ist. Edoardo war einst ein vielfach ausgezeichneter Kriegsberichterstatter. Am stärksten hat ihn die Zeit während des Bürgerkriegs in den frühen Neunzigerjahren im ehemaligen Jugoslawien geprägt. In seinen persönlichen Sachen entdeckt Camille Hinweise darauf, dass sich das Ziel seiner Suche womöglich in Herzegowina befindet. Also machen sich Vater und Tochter in Edoardos vor über dreißig Jahren zum Wohnmobil umgebauten klapprigen VW-Bus auf die Reise.
Nach der Rückkehr wird sich zwar herausstellen, dass sich die Antwort auf die Frage nach Camille die ganze Zeit zuhause befunden hat, aber sie ist ohnehin bloß der Auslöser für die Sinnsuche; und letztlich geht es in diesem berührenden Film der aus dem Tessin stammenden Regisseurin Bindu de Stoppani auch gar nicht um den Vater, sondern um die Tochter. Deshalb wird aus dem Duo alsbald ein Trio: Edoardo besteht darauf, einen Anhalter samt Cello mitzunehmen; eine Maßnahme, die zur Folge hat, dass sich die Tragikomödie zur Romanze wandelt, denn Leo (Nicola Mastroberardino) ist mit seiner positiven Lebenseinstellung der exakte Gegenentwurf zu Camille. Es dauert jedoch eine ganze Weile, bis sie erkennt, wie gut er ihr tut; und das nicht nur, weil seine Gegenwart dafür sorgt, dass die etwas steif und verklemmt wirkende Buchhalterin nach und nach auftaut. Seinen Rat, sie müsse lernen, ihren Vater loszulassen, wenn sie sich nicht selbst verlieren wolle, nimmt sie erst dann ernst, als sie erkennt, dass der vermeintliche Luftikus einst einen ähnlichen Verlust erlebt hat wie sie selbst mit dem immer mehr verschwindenden Edoardo. Anfangs hofft sie noch, dessen bruchstückhafte Erinnerungen würden sich im Verlauf der Reise zu einer schlüssigen Biografie zusammenzusetzen, aber Leo macht ihr klar: Das Leben folgt keinem Plan.
 
Im Grunde ist "Wo ist Camille?" ein Drama, aber trotz der tragischen Elemente sorgt de Stoppani, die auch das Drehbuch geschrieben hat, für viel Heiterkeit. Dabei gelingt ihr ähnlich wie Til Schweiger mit "Honig im Kopf" das Kunststück, den Vater nicht zur Witzfigur werden zu lassen; selbst wenn es meist Edoardo ist, der mit seinen Aussetzern die komischen Szenen verursacht, wenn er sich Leo immer wieder aufs Neue vorstellt oder wenn er einfach davon fährt, nachdem die Tochter und der Tramper den streikenden VW-Bus angeschoben haben. Gleichzeitig macht der Film keinen Hehl daraus, wie anstrengend das Leben mit einem dementen Angehörigen ist: Der alte Mann benimmt sich oft genug wie ein mal quengelndes, mal bockiges kleines Kind, das zu allem Überfluss auch noch regelmäßig abhanden kommt. Gegen Ende geht er sogar mit dem Messer auf seine Tochter los.
 
Zwischendurch hat Edoardo jedoch einige lichte Momente. Auf diese Weise gibt es ein leidenschaftliches Wiedersehen, als das Trio in der Nähe von Mostar in einer unkonventionellen Künstlerkommune landet und der ehemalige Journalist auf Eloise (Tatiana Winteler) trifft, eine Frau mit karottenroten Harren, die ihm einst ganz offensichtlich viel bedeutet hat. Damals hat er als Reporter den Unterdrückten eine Stimme gegeben und darüber seine eigene Familie vergessen; gerade deshalb muss Camille erst heimkehren, um sich mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen. Und so hat "Wer ist Camille?" nur einen Schönheitsfehler, über den auch die guten darstellerischen Leistungen und die sorgfältige Bildgestaltung nicht hinwegtäuschen können: Der Film ist hör- und sichtbar synchronisiert. Die mit viel Feingefühl erzählte Geschichte macht das allerdings spielend wieder wett.