Heute ist das Zwangsarbeiter-Lager eine Gedenkstätte. Sie befindet sich vor der Haustür vieler junger Menschen. Michael Freitag-Parey ist Diakon und bringt ihnen die Geschichte des Lagers Sandbostel im Landkreis Rotenburg/Wümme nahe. Freitag-Parey und seine Kollegen haben eine in ihrer Art einmalige Form gefunden, die Geschichte des Ortes altersgerecht zu erzählen. Der Name ihres Programms ist: "Wir müssen reden".
Für jede Altersgruppe sieht die Arbeit für Freitag-Parey also etwas anders aus. An diesem Wochentag hat er eine Grundschulklasse aus der Region zu Gast. Auf dem weitläufigen Gelände sehen die Kinder erst einmal eine Ansammlung von Baracken. Einige verfallen, in andere können sie hinein gehen. Wieder andere dienen als Veranstaltungsraum. "Ich zeige ihnen die Lagerbaracke, die Lagerkirche und den Latrinenraum", sagt Freitag-Parey.
Dabei erklärt er den Viertklässlern, wie es auf dem Gelände einst zugegangen ist. Wo sich die Kinder jetzt frei bewegen können, waren im Zweiten Weltkrieg Kriegsgefangene eingesperrt. Die Nationalsozialisten internierten Soldaten aus Frankreich, Großbritannien, Belgien und den USA. Auch Russen und Polen waren unter den Gefangenen. Die Menschen mussten hart in der Rüstungsindustrie und der Landwirtschaft arbeiten. Doch während die Franzosen, Briten, Belgier und Amerikaner recht gut behandelt wurden, erging es den Polen und Russen schlecht. Sie hatten nicht genug zu essen, konnten sich nicht richtig waschen und es gab kaum medizinische Versorgung für sie. Viele von ihnen starben wegen der schlechten Behandlung.
Die Kinder erfahren etwas von der Ideologie der Nazis. Dabei sollen sie sich ihr eigenes Bild machen. Denn: In die Ausstellung geht es mit den Grundschülern nicht, um sie vor den für sie durchaus verstörenden Bildern zu bewahren. Dies ist eine Absprache mit den Schulen und Eltern.
Den Lagerrundgang gibt es für alle Altersgruppen. Er sei wichtig, um sich auf diesen zuerst "komischen Ort" einzulassen. Dann beginnt die eigentliche Arbeit des Diakons, das Credo: "Wir lassen den Ort sprechen." Und: "Wir arbeiten biografisch." So schauen sich Jugendliche auch die Ausstellung an und befassen sich mit dem Leben einzelner Gefangener: Wo kamen sie her? Wie lebten sie? Was mussten sie tun? Am Ende hätten sie ein gutes Bild vor Augen und könnten einen "Namensziegel" herstellen. Der Ziegel wird an einer großen Stele auf dem Friedhof Sandbostel angebracht. Durch dieses Projekt würden die Toten Stück für Stück aus ihrer Anonymität geholt.
Die Schüler der gymnasialen Oberstufen blicken gar ein Stück in die Zukunft. Sie stellen nicht nur die Ziegel her, sondern entwerfen Objekte zur Visualisierung des ehemaligen KZ-Durchgangslagers, das es ebenfalls in Sandbostel gab. Zudem im Angebot ist ein Anti-Rassismus-Programm mit mehreren Workshops.
Durch die Nähe der Gedenkstätte und das Programm "Lass uns reden" bekämen die jungen Menschen früh mit, wie grausam es vor ihrer Haustür zugegangen sei, sagt Freitag-Parey. Das bringe ihnen auch etwas für die Gegenwart, denn die Kinder erführen ja auch, wie die Erwachsenen über Politik diskutieren und was im Internet vor sich geht. Auch auf der Straße schnappten sie "Halbwissen" auf.
Um die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Halbwissen nicht alleine zu lassen, fügten sein Kollegen und er mit ihrem Programm weitere "Puzzleteile zusammen, die sie im Kopf haben, und machen sie sensibel dafür, dass Geschichte wichtig ist, um Zusammenhänge besser verstehen und einordnen zu können", sagt Freitag-Parey.
Arbeit mit Konfirmanden
Erst ab der neunten oder zehnten Klasse hätten die Jugendlichen häufig erst die Möglichkeit, das alles einzuordnen und zu bewerten - wenn es dann nicht schon zu spät sei. Die Meinung über den Nationalsozialismus, Krieg und Gewalt könnten sich zu diesem Zeitpunkt längst verfestigt haben. Mithin käme der Nationalsozialismus in der Schule viel zu spät dran.
Diese Lücke versuchen Freitag-Parey und die anderen Mitarbeiter zu schließen. Der Diakon arbeitet seit 2014 in der Gedenkstätte Sandbostel. Seine Stelle wird von 2019 bis 2021 vom Kirchenkreis Bremervörde-Zeven und dem Fond "Friedenwege" der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers finanziert.
Die Konfirmanden, die ins Lager kommen, sollen sich über Fotos zwei unterschiedliche Sichtweisen erarbeiten: die der Wachmannschaften und die der Gefangenen. Was die Gefangenen festhielten, zeigt das Elend. Für die Wachmannschaften hingegen war Sandbostel ihr Arbeitsort. Michael Freitag-Parey sagt: "Aus ihren Bildern wurden Postkarten, die die Leute nach Hause schickten."
Wenn Diakon Freitag-Parey mit den Konfirmanden oder auch seinen Schülern arbeitet, stellt er fest: Sie verlieren Stück für Stück ihre Scheu und Unsicherheit. Dann schlägt er den Bogen in die Gegenwart. Seine Fragestellungen: Was ist Gerechtigkeit, was ist ein gerechter Friede? Wo kann jeder Einzelne für einen gerechten Frieden einstehen? Was ist die Aufgabe des Einzelnen? Wie drückt sich Ungerechtigkeit im Alltag aus - in der Schule, im Verein, in der Familie?
Die Arbeit mit den Konfirmanden ist für Freitag-Parey das, was er selbst "Ausbildung von Multiplikatoren eines gerechten Friedens und für ein gerechtes Miteinander" nennt. Doch nicht nur das, es geht auch darum, den Jugendlichen "Rüstzeug" für die Schule und darüber hinaus mitzugeben.