Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité ist der bekannteste deutsche Vertreter seines Fachs. In einer eigenen "Crime Doku"-Reihe ("Dem Tod auf der Spur - Die Fälle des Prof. Tsokos", Sat.1 2017) hat er spektakuläre Fälle aus seiner Praxis vorgestellt. Nebenbei findet der Arzt auch noch Zeit, Bücher zu schreiben, mal faktisch ("Sind Tote immer leichenblass?"), mal als Fiktion. "Zersetzt" basiert auf dem zweiten von bislang drei Romanen über die Arbeit des brillanten Rechtsmediziners Fred Abel. Die Handlung ist im Grunde gar nicht so kompliziert. Das Drehbuch von Regisseur Hansjörg Thurn und Koautor Christian Demke erzählt sie jedoch äußerst unübersichtlich, was allerdings sehr zum Reiz des Films beiträgt. Den Rahmen bildet eine Anhörung. Im Verlauf der Befragung von Abel (Tim Bergmann) und seiner Lebensgefährtin Lisa (Annika Kuhl) werden die Geschehnisse als Rückblende erzählt. Allerdings wirkt es etwas ungelenk, wenn Lisa wie bei einem Telefonat die Fragen des leicht blasierten Generalstaatsanwalts Rubin (Dietmar Bär) wiederholen muss, damit die Zuschauer mitbekommen, was der Kollege wissen will. Trotzdem ist die Idee, auch Lisas Perspektive mit einzubeziehen, richtig: Die Staatsanwältin bei der Bundesanwaltschaft und ihr Freund sind mit zwei Fällen beschäftigt, die bis auf ein kleines Detail rein gar nichts miteinander zu tun haben; und das macht die Geschichte hochinteressant.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Handlung beginnt mit einem seltsamen Auftritt: Der Geheimdienstchef von Transnistrien, ein vierschrötiger Typ namens Burkjanow (Claude Oliver Rudolph), ergibt sich Abel, nachdem er zwei Menschen getötet hat. Der Mann ist überdies in Mordfälle verwickelt, denen Abel im Auftrag eines transnistrischen Oligarchen nachgehen soll. In dessen moldauischer Heimat sind die Leichen zweier durch Kalk völlig entstellter Männer gefunden worden; der betagte Unternehmer fürchtet, dass es sich um seine Neffen handelt. Auf diese Weise wird Abel in ein tödliches Geflecht konkurrierender Interessen hineingezogen. Der Rechtsmediziner tut gut daran, niemandem zu vertrauen; erst recht nicht Varvara Romani (Victoria Sordo), der schönen Stellvertreterin Burkjanows. Ausgerechnet sie gibt ihm jedoch den entscheidenden Hinweis zur Lösung des zweiten Falls: In Berlin ist die Kellnerin Jana (Svenja Jung), eine Zufallsbekanntschaft Abels, verschwunden. Ihr gilt auch die Anhörung: Rubin wirft dem Arzt vor, er habe sich schwere Dienstverstöße mit Todesfolge zu Schulden kommen lassen. Während die Ereignisse in Transnistrien weitgehend undurchschaubar bleiben, weil hier jeder gegen jeden intrigiert, ist die Ebene mit Jana ein klassischer Thriller. Ihr Entführer verabreicht seinen Opfern eine Droge, die die Sensibilität der Haut extrem steigert. Sie wurde in der früheren Sowjetunion bei Verhören eingesetzt, und dies ist das Detail, an dem sich die beiden Ebenen überschneiden. Dass der Kidnapper ebenso wie Abel Arzt ist und beide unter einem Kindheitstraum leiden, ist zudem eine interessante Parallele.
Thurn, Regisseur von so unterschiedlichen, auf ihre jeweilige Weise aber gleichermaßen spannenden Werken wie "Die Schatzinsel" (2007), "Die Wanderhure" (2010) oder "Isenhart" (2011), weiß natürlich, wie man so eine Geschichte möglichst fesselnd erzählt. Der Nervenkitzel resultiert aus dem Bangen um gleich zwei Figuren, auch wenn klar ist, dass Abel sein Abenteuer in Transnistrien mehr oder weniger unbeschadet überstehen wird. Jana hingegen scheint dem Tod geweiht. Harald Schrott muss den Peiniger der jungen Frau zwar als typischen Kinopsychopathen mit gespaltener Persönlichkeit im Stil von "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" verkörpern, aber das macht Janas regelmäßig scheiternde Fluchtversuche umso spannender; erst recht, wenn die Rettung zum Greifen nahe ist, als die Polizei das Haus durchsucht. Es gibt genug Filme, die sich allein auf diese zweite Ebene beschränken.
Sat.1 hat zuletzt einige sehenswerte Thriller gezeigt ("Amokspiel", "Jung, blond, tot"), aber "Zersetzt" ist angesichts einiger expliziter Sexszenen dennoch ungewöhnlich für den Sender; die ekligen Obduktionsbilder und die ausweglose Situation der gefangenen Jana lassen eine Ausstrahlung ab 20.15 Uhr ohnehin stellenweise bedenklich erscheinen. Handwerklich ist der Film allerdings von großer Qualität. Vorzüglich ist vor allem die moderne und aufwändig wirkende Bildgestaltung (Kamera: Sonja Rom), wobei die optische Effizienz vieler Momente erst bei der Nachbearbeitung entstanden ist. Wenn Abel die beiden Körper in Transnistrien untersucht, zeigen extrem kurze Rückblenden, was den Männern zu Lebzeiten widerfahren ist. Diese "Flashbacks" sind im Grunde nur Andeutungen, aber im Zusammenspiel mit den Schilderungen der Foltermethoden ergeben die Bilder eine unheilvolle Mischung, die umgehend die Fantasie in Gang setzt. Bei einem Erfolg des Films dürfte Sat.1 auch die weiteren Abel-Romane verfilmen lassen.