Ein Hamburger Fischer findet in seinem Netz eine ganz spezielle Flaschenpost: Jemand hat mit Blut auf einer Zeitungsseite eine Nachricht hinterlassen. Die Mitteilung ist kaum noch zu entziffern, denn sie war lange unterwegs, aber die Botschaft ist trotzdem eindeutig: Vor vier Jahren ist der angesehene Unternehmer Paul Westerberg (August Zirner) nach einem Vortrag in Prag entführt worden. Es gab zwar eine Lösegeldzahlung, aber der Mann ist seither spurlos verschwunden.
Das ist als Fall schon mal ziemlich interessant, aber natürlich kein Job für Hauptkommissarin Helen Dorn (Anna Loos), denn die gehört ja zum LKA Düsseldorf. Auch dafür findet das Drehbuch eine clevere Lösung. Der Film beginnt zwar mit Aufnahmen Westerbergs in seinem Verlies, die verdeutlichen, wie mit zunehmender Dauer sein Lebensmut schwindet, wechselt dann jedoch zu Helen Dorn, die einen flüchtigen Drogendealer verfolgt und beim Schusswechsel schwer verletzt wird. Monate später haben die Kollegen vom psychologischen Dienst erhebliche Zweifel, dass sie das Erlebnis überwunden hat. Just jetzt taucht ein BKA-Mitarbeiter (Christoph Letkowski) auf, der ihr ein Angebot macht, das sie nicht ablehnen kann: entweder Innendienst oder eine Reise nach Prag.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Florian Oeller hatte bei seinem ersten Drehbuch für "Helen Dorn" über den ungewöhnlichen Fall hinaus also gleich mehrere gute Ideen. Zu den besten Arbeiten des Autors gehören verschiedene NDR-Sonntagskrimis, darunter ein sehenswerter Falke-"Tatort" über Islamismus ("Zorn Gottes") sowie für den "Polizeiruf" aus Rostock der Polizeifilm "Im Schatten" (beide 2016) und der Polit-Thriller "In Flammen" (2018). Prag ist, bei allem Respekt vor Düsseldorf, ohnehin ein deutlich illustrerer Schauplatz als Dorns gewohntes Revier. Außerdem ist es immer fruchtbar, wenn sich Einzelgänger mit einem Zwangspartner arrangieren müssen, was Helen Dorn nicht davon abhält, auch in der in der tschechischen Hauptstadt ihr Ding durchzuziehen und den Kollegen Schwarz regelmäßig stehen zu lassen. Ungewöhnlich ist auch der Hintergrund der Entführung, denn nun kommt doch noch die Prager Botschaft ins Spiel: Die Spur führt zurück ins Jahr 1989, als Westenberg große Schuld auf sich geladen hat, für die er nun büßen soll. Racheengel ist eine junge Frau (Nora Waldstätten), die auf besonders perfide Weise verhindern will, dass Dorn weiter ermittelt: Sie sorgt dafür, dass der Vater (Ernst Stötzner) der LKA-Beamtin mit einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus muss, wo er nach der Operation ins künstliche Koma versetzt wird.
Es mag zwar etwas weit hergeholt klingen, dass die Schurkin eigens von Prag nach Düsseldorf reist, aber in der Umsetzung wirkt es durchaus plausibel. Regisseur Alexander Dierbach hat mit "Prager Botschaft" seinen sechsten Film für die Reihe gedreht. Nach einigen guten Episoden war sein letzter Beitrag, "Schatten der Vergangenheit", eine der schwächsten "Helen Dorn"-Folgen, weil der Titelheldin eine Gegenfigur von Format fehlte; da war beispielsweise "Gnadenlos" (2017, auch von Dierbach) mit Heino Ferch als unbarmherzigem Jugendrichter von ganz anderem Kaliber. In "Prager Botschaft" ist Nora Waldstättens böser Engel, der im Auftrag des Vaters Rache nimmt, zwar nur eine Nebenfigur, aber schon allein die Rätselhaftigkeit dieser Rolle ist reizvoll. Die Geschichte bezieht einen Großteil ihrer Spannung ohnehin aus der Frage, was sich Westerberg damals zuschulden kommen lassen hat, um derart dafür büßen zu müssen: Vier Jahre verbringt er nun schon in seinem Kellerkerker, und weil sein Todesdatum feststeht, wird Dorns Suche zu einem Wettlauf mit der Zeit.
Die Qualität des Films zeigt sich neben den ausnahmslos guten darstellerischen Leistungen und der gelungenen Integrierung der Rückblenden nicht zuletzt an den Drehbuchdetails. Dass der Entführte überhaupt auf sich aufmerksam machen konnte, hat er dem Moldau-Hochwasser 2016 zu verdanken; seine Flaschenpost hat zwei Jahre gebraucht, bis sie schließlich das Meer erreicht hat. Genschers-Auftritt aus dem Jahr 1989 wird im Übrigen ebenfalls gewürdigt. Westenbergs Unglück nimmt seinen Lauf, als er 2014 an einem Empfang teilnimmt, der an das denkwürdige Ereignis erinnern soll. Die entsprechenden Aufnahmen sind allerdings nicht in der Prager Botschaft, sondern im nicht minder imposanten Sophienpalais entstanden. Die intensivsten Momente spielen jedoch in der Gegenwart und haben nur mittelbar mit der Suche nach dem Unternehmer zu tun: Anna Loos darf die Heldin am Krankenbett von Vater Richard, der vermutlich bleibende Schäden davontragen wird, von einer ganz anderen Seite zeigen. Die Schauspielerin verkörpert die LKA-Kommissarin ohnehin stets betont uneitel, aber in den Szenen nach ihrer eigenen Verletzung und angesichts des Schicksals ihres Vaters wirkt Helen Dorn schwer angeschlagen. Umso berührender ist das verblüffend inszenierte Zwiegespräch, das sie mit Richard führt; die dabei angesprochenen offenen Fragen werden hoffentlich im nächsten Film beantwortet. Der größere Knüller ist allerdings die andere Tochter/Vater-Beziehung des Films.