Bekannte Klänge, doch ungewohnte Worte schallen durch das Kirchenschiff der Pauluskirche in der Dortmunder Nordstadt. Die Gottesdienst-Besucher singen "Ich lobe meinen Gott" – auf Tamil. Denn an diesem Sonntagmorgen hat die Lydia-Gemeinde wieder zu einem ihrer Internationalen Gottesdienste eingeladen, den sie dieses Mal zusammen mit der tamilischen, freikirchlichen Gemeinde "Assembly of Redeemer King" feiert.
Die Pauluskirche ist voller als bei vielen regulären Sonntagsgottesdiensten, unter den Anwesenden sind viele junge Eltern, die ihre kleinen Kinder mitgebracht haben. Einige Besucher wohnen sogar gar nicht in Dortmund, sondern sind extra aus den Nachbarstädten angereist.
Anders als bei anderen Gottesdiensten ist auch die Musik: viele Lieder sind gerade mal ein paar Jahre oder Jahrzehnte alt. Gesungen wird auf Deutsch, Englisch, Französisch und Tamil. Besondere Aufmerksamkeit gilt den "Patrick Brothers", zwei Mitgliedern der tamilischen Gemeinde: Begleitet von Johnsan am Flügel bringt Benjamin Patrick den Lobpreisgesang in den Gottesdienst. Mit der deutschen Version von Hillsongs "What a beautiful name it is" und mit "Wir erheben dich" von der Outbreakband setzt er für einen landeskirchlichen Gottesdienst ungewohnte Impulse.
"Ich war von der Musik wirklich unglaublich positiv überrascht. Das hatte ich nicht erwartet", erzählt Hannah, die mit ihrem kleinen Sohn zum Gottesdienst gekommen ist. Auch Pastorin Birgit Worms-Nigmann ist tief berührt: "Eigentlich wäre ich gerne aufgestanden und hätte meine Arme gehoben, so sehr hat mich seine Musik angesteckt. Aber das ist ja eigentlich gar nicht so unser Ding." Dabei ist sie sich ziemlich sicher, dass wenn sie es gemacht hätte, andere gefolgt wären. So bleibt aber jeder in seiner Bank sitzen und bewegt sich nur verhalten zur Musik.
Thema des Gottesdienstes die unterschiedlichen Vorstellungen vom Abendmahl. Doch statt von der Kanzel herab die theologischen Lehrmeinungen zu verkünden, laden die Pastorinnen Carola Theilig und Birgit Worms-Nigmann zusammen mit ihrem Team die Gottesdienstbesucher ein, sich in kleinen Gruppen zusammenzufinden und sich darüber auszutauschen, was das Abendmahl für sie persönlich bedeutet. Die bunt gemischten Gottesdienstbesucher diskutieren mal auf Deutsch und mal auf Englisch – und manchmal alles durcheinander, mit Händen und Füßen. Wirkliche Sprachbarrieren gibt es nicht – nur ehrliches Interesse daran, wie andere das Abendmahl gestalten. Und einige Überraschungen, wie viele Facetten das Abendmahl bietet.
So schwärmt zum Beispiel eine Besucherin davon, dass das Abendmahl eine der wenigen Gelegenheiten im normalen Gottesdienst sei, nicht nur nach vorne zu schauen, sondern die Menschen in seiner Umgebung wahrzunehmen und anzusehen. Ein Tamile erklärt wiederum seiner Gruppe, dass es bei Ihnen Tradition sei, sich vor dem Abendmahl bei jemandem zu Hause zu treffen und gemeinsam zu fasten oder wenigstens ein Fastengebet zu sprechen, um sich auf das Abendmahl am nächsten Tag vorzubereiten.
Nach dem sich die Gottesdienstbesucher untereinander ausgetauscht haben, hält Pastorin Birgit Worms-Nigmann die Predigt. Die findet jedoch nicht auf der Kanzel statt, sondern bequem vom roten Sofa aus, das neben dem Altar steht. Und Worms-Nigmann hat sich die Hilfe von Benjamin Patrick, Justin Sathiskumar und Barbara Matt geholt: denn statt selbst über das Abendmahl zu philosophieren, befragt sie die drei jungen Menschen zu ihren Erfahrungen. Dabei geht es um tamilische Abendmahlstraditionen, die Wirkung des Rituals und die Diskussion, ob man Menschen davon ausschließen darf, weil sie zum Beispiel noch nicht konfirmiert sind. "Diese Ablehnung tat wirklich weh. Deswegen bin ich so froh, dass hier in unserer Gemeinde nicht die Pastoren zum Abendmahl einladen, sondern Jesus Christus. Und der lehnt niemanden ab", sagt Justin Sathiskumar.
Damit sich die Kinder während der Murmelgruppen und der Predigt nicht langweilen, bekommen sie ihr ganz eigenes Kinderprogramm. Ein kleiner Junge im BVB-Trikot darf mit einer gelben Metall-Laterne, in der ein an der Osterkerze entzündetes Licht steht, die kleine Kinderschaar in die Sakristei führen. Dort lernen sie ganz kindgerecht, was es mit dem Abendmahl auf sich hat. Jeder knetet ein Symbol des Abendmahls: Kelch und Brot, sowie eine Rose als Zeichen von Gottes Liebe.
Zum Abendmahl sind die Kinder wieder zurück aus der Sakristei und auch sie kommen mit ihren Eltern nach vorne an den Altar. Dort nimmt Carola Theilig eine große, runde Oblate und bricht sie in viele kleine Teile. Mit den Worten "Christi Leib für dich gegeben" reichen die Gottesdienstbesucher den Holzteller mit den Oblaten weiter. Einige essen das Oblatenstück sofort, andere behalten es in der Hand. Dann gehen die Pastorinnen Theilig und Worms-Nigmann mit dem silbernen Abendmahlskelch von einer Person zur anderen – einige trinken, andere tauchen ihr Oblatenstück ein. Zum Schluss fassen sich alle an die Hände.
Was wie ein fast ganz normales Abendmahl wirkt, ist bei diesem Internationalen Gottesdiensten der Lydia-Gemeinde absolutes Neuland: noch nie haben die Mitglieder der verschiedenen Gemeinden zusammen Abendmahl gefeiert. Vorher, so Pastorin Birgit Worms-Nigmann, sei man noch zu sehr damit beschäftigt gewesen, eine eigene Liturgie für die Internationalen Gottesdienste zu finden. Nachdem man die nun jedoch habe, sei die Entwicklung einer "eigenen" Abendmahlstradition der nächste logische Schritt gewesen.
"Theologisch waren wir uns in der Vorbereitung sehr schnell einig, aber wir haben lange über die praktische Umsetzung diskutiert", verrät Carola Theilig. Während in der tamilischen Gemeinde beim Abendmahl Brot gebrochen wird, verwendet die Lydia-Gemeinde sonst kleine Oblaten. Der Kompromiss, auf den sich das Vorbereitungsteam geeinigt hat, war schließlich die Verwendung einer großen Oblate, die gebrochen wird – so flossen Einflüsse aus beiden Traditionen in die Gottesdienstgestaltung ein. Pastorin Worms-Nigman vergleicht es mit einem gewebten Muster: jeder Faden ist einzigartig, aber nur wenn man ihn mit anderen Fäden verbindet, ergibt sich ein beeindruckendes Muster. "Wir feiern in unserer Verschiedenheit, in unserer unterschiedlichen Frömmigkeit gemeinsam Gottesdienst, weil wir eins in Christus sind."
Normalerweise sind bei solchen Ereignissen wie dem Internationalen Gottesdienst auch noch eine reformierte südkoreanische Gemeinde und die kamerunische Worship-Band "The Living Worshippers" dabei, denn sie alle sind mit der Zeit fester Bestandteil des Projekts "Gemeinsam Kirche sein – Internationale Gemeinde" der Lydia-Gemeinde geworden. Seit 2016 arbeitet sie mit Unterstützung der Evangelischen Kirche von Westfalen, dem Kirchenkreis Dortmund und dem Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung daran, dass bis zum Jahr 2020 Christen anderer Sprache und Herkunft in der Lydia-Gemeinde ihre Heimat gefunden haben. Nach der ersten Hälfte der Projektphase hat die westfälische Landeskirche die extra dafür eingerichtete zusätzliche Pfarrstelle um zwei Jahre bis Ende 2020 verlängert. Ein großer Erfolg für die Arbeit von Birgit Worms-Nigmann, Carola Theilig und den zahlreichen Ehrenamtlichen, die viel Zeit und Energie in die Vorbereitung Internationaler Gottesdienste und anderer internationaler Gemeindeveranstaltungen investieren.
Zu denen zählt auch Benjamin Patrick, der schon mehrere Internationale Gottesdienstes zusammen mit den anderen vorbereitet hat. Er genießt die kontroversen Diskussionen, die sie bei der Vorbereitung über die eigenen Gottesdienstpraktiken führen. Zum Beispiel darüber, ob das Glaubensbekenntnis zwingend in einen Gottesdienst gehöre oder nicht. "In unseren tamilischen Gottesdiensten beten wir fast immer vollkommen frei, deshalb gehört es für nicht dazu. Die Mitglieder der südkoreanischen, reformierten Gemeinde sehen das zum Beispiel ganz anders", erzählt er. Am Ende fände man aber eigentlich immer einen gemeinsamen Weg. So wie in diesem Gottesdienst: da hat Benjamin Patrick seine Fürbitte frei auf Tamil gebetet, während die Fürbitten auf Deutsch, Englisch und Französisch vorbereitet gewesen waren.
Auch über die richtige Länge der Gottesdienste ist viel diskutiert worden, so Carola Theilig. "Für unsere klassischen Gottesdienstbesucher ist ein zweistündiger Gottesdienst schon sehr lang. Viele unserer afrikanischen Partner haben sich dann aber gerade erst "warmgelaufen" und sind viel längeres gewöhnt." Am Ende habe man sich darauf geeinigt, einen anderthalb Stunden dauernden Gottesdienst zu konzipieren. "Das ist uns zwar dieses Mal noch nicht gelungen", gesteht Birgit Worms-Nigmann, "aber wir arbeiten daran". Wichtig sei laut Carola Theilig vor allem, dass es keine zu langen, einzelnen Redebeiträge gebe, denn das würde als langweilig empfunden.
Sandra hat mit ihrer wenige Monate alten Tochter Tilda den Gottesdienst besucht. Für sie sind Kirche und Gemeinde nicht mehr an den Wohnort gebunden. Stattdessen sucht sie sich die Angebote heraus, die sie ansprechen. "Ich finde die moderne Musik sehr wichtig und gehe deswegen auch gerne zu freikirchlichen Gottesdiensten. Heute hat mir die Musik hier aber auch sehr gut gefallen", erzählt sie. Es sei schön, dass sie als Mutter mit Kind in der Kirche willkommen geheißen werde und ihre Tochter nicht als Störfaktor angesehen werde. Dem kann auch Hannah nur zustimmen: der Internationale Gottesdienst sei für sie einige Gelegenheit, mal entspannt am Gottesdienst teilzunehmen.
Die Rückmeldung der Gottesdienstbesucher ist für das Organisationsteam extrem wichtig. "Wir empfinden das als Bereicherung, wenn Leute zu uns kommen und sagen, was ihnen gefallen hat und was sie sich anders wünschen. Es geht im Gottesdienst ja schließlich um die Menschen und nicht um uns", sagt Benjamin Patrick. Einige Gottesdienstbesucher fühlen sich durch diese internationalen Gottesdienste endlich wohl in der Gemeinde – sonst sehe man in der Kirche ja niemanden wie sie.