Der Himmel ist grau, der hoch aufragende Kulturpalast ebenso. Ein Meer aus rot-weißen Fahnen und zumeist dunkel gekleidete Menschen bewegen sich auf das Dmowski-Rondell im Zentrum Warschaus zu. Ab und zu knallt es, das sind die Böller. Und man sieht die Fahnen von nationalistischen Organisationen. Nur Polizisten sind nicht zu sehen. Damit ist klar, heute haben die Nationalisten über die Regierung einen Sieg errungen.
Es ist Sonntag, der 11.November, 13 Uhr. Ein wichtiger Tag in Polen - vor hundert Jahren, zum Ende des Ersten Weltkriegs, übernahm Marschall Jozef Pilsudski in Warschau den Oberbefehl über die polnischen Streitkräfte. Der Tag wird als Wiedererlangen der Staatlichkeit gesehen. Ein Grund zum Feiern. Doch über das "wie" gab es im Vorfeld Streit. Denn der "Unabhängigkeitsmarsch", der von den nationalistischen Organisationen "Allpolnische Jugend" (MW) und "Nationalradikales Lager" (ONR) seit 2009 ausgerichtet wird, darf seit 2016 durch das Zentrum Warschaus ziehen. Obwohl beide Gruppen für zahlreiche fremdenfeindliche Übergriffe verantwortlich sind.
Eine der "größten Ansammlung von extremen Nationalisten in Europa
Im vergangenen Jahr gab es üble Schlagzeilen in den internationalen Medien, da 60.000 Personen mit fremdenfeindlichen Parolen durch das Zentrum der Hauptstadt zogen. Glaubt man Anna Tatar, einer Mitarbeiterin der Vereinigung "Nie wieder", die den rechten Rand in Polen observiert, ist der Unabhängigkeitsmarsch zu einer der "größten Ansammlung von extremen Nationalisten in Europa" herangewachsen.
Die nationalkonservative Regierung versprach die Verantwortlichen zu bestrafen, geschehen st jedoch nichts. Vielmehr warb die regierende Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) bis Ende Oktober damit, sich dem Unabhängigkeitsmarsch anzuschließen. Dann verkündeten Regierungssprecherin und Präsident den Ausstieg - man habe sich nicht einigen können. Inoffiziell wurde kolportiert, dass der Anmarsch von Rechtsradikalen der Regierung dann doch zu mulmig wurde. So sollen Vertreter der Neo-Nazi-Organisation "Blood and Honor" sowie viele Vertreter der italienische Forza Nuova eingeladen worden sein.
Die Katholische Kirche hat sich kaum geäußert
Daraufhin erwirkte die Bürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz von der liberalen "Bürgerplattform" (PO), am vergangenen Dienstag, ein Verbot des Marsches und die Regierung rief einen eigenen aus, bei dem gegen verbotene Zeichen "schnell und rücksichtslos durchgegriffen" werde. Doch die Ausrichter klagten erfolgreich, das Gericht hob das Verbot am Donnerstag auf. Nationalisten und Regierung planten nun doch einen gemeinsamen Umzug, nur über die Modalitäten herrschte bis zum Sonntag Verwirrung. Allein Feuerwerkskörper und andere Fahnen sollten verboten sein. Aus dieser Diskussion hat sich die Katholische Kirche größtenteils heraus gehalten, wenn auch die Bischofskonferenz zwischen Nationalismus und Patriotismus unterscheidet. Tadeusz Rydzyk, Chef des einflussreichen Medienkonzerns "Radio Maryja", nannte den Versuch, den Marsch zu verbieten, "einen Dolchstoss in den Rücken der Nation."
Jetzt, zwei Stunden vor Beginn des Marsches dominieren die Rechten das Dmowski-Rondell, die Fahnen der ONR und MW wehen trotz des Verbots. "Gott, Ehre, Vaterland" das Motto des diesjährigen Marsches wird skandiert. Die meisten tragen eine weiß-rote Armbinde, wie die Kämpfer der "Heimatarmee", der polnischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Auch die Engländerin Sharon Binks ist mit einer solchen Armbinde versehen. Die rechte Aktivistin aus Middlesbrough unterhält sich mit dem Rentner Stanislaw R. Dieser möge doch bitte bald ihren Organisationen über Skype ein Interview geben und über den Kommunismus erzählen. Das verstünden die Engländer nicht. "Das ist prima hier in Polen, dass es so eine Bewegung gibt", erzählt sie dann dem Reporter. "So kann verhindert werden, dass es Verhältnisse wie in England gibt, mit den Muslimen." erklärt sie. Die polnische Rechte aber auch die polnische Regierung sind en Vorbld für die europäischen Anti-Islam-Bewegungen, da sie sich weigern, Flüchtlinge aus Nahost aufzunehmen.
"Werden hier faschistische Schriften verteilt?"
Der Rentner packt inzwischen seinen kleinen Koffer aus und reicht Schriften herum. Es geht um die Gründung einer neuen Nationalpartei sowie um eine mögliche Konspiration zwischen der Ukraine und Israel. Dann zeigt er einen Zeitungsausschnitt aus der "Gazeta Warszawska", einer vermutlich vom Kreml finanzierten Wochenzeitung. "Werden hier faschistische Schriften verteilt, haha" so zwei kurzhaarige Männer Mitte zwanzig, die sich dazu gesellen. Man scheint unter sich zu sein. Fern jeder Polizei, traut sich hier auch niemand, offen journalistisch zu arbeiten.
Einen Kilometer südlich, am Lubelksi-Platz, treffen sich linken Gruppen. "Für eure und unsere Freiheit" heisst ihr Motto. Gosia Linkiewicz, eine Lokalpolitikerin aus der ostpolnischen Stadt Bialystok, kennt das Problem mit Rechtsextremen von zu Hause. Die ostpolnische Stadt ist eine der Hochburgen der ONR mit vielen Übergriffen. Angst habe sie nicht - "was passiert, das passiert". Früher kam es zu Straßenschlachten zwischen Linken und Rechten.
Zurück zum Dmowski-Rondell. In der U-Bahnstation "Centrum" lässt es sich kaum atmen, Kinder husten, auch hier wurden Böller gezündet. Über Umwege erreicht der Reporter den De-Gaulle-Rondell. Dort schirmen Militärpolizisten den Straßenrand der Jerusalem-Allee ab. Ein Teil der Warschauer Polizisten hat sich aus Protest gegen schlechte Bezahlung krankschreiben lassen.
Voyeurismus und Nervenkitzel
Auf der Straße laufen Menschen mit weiß-roten Fahnen. Ist das nun der Regierungsmarsch oder der der Nationalisten? "Es gibt nur einen Marsch" meint ein Militärpolizist mit Überzeugung. Doch dann entsteht eine Lücke. Eine Gruppe von dreißig schwarz Vermummten, die sogenannten "Szturmowcy" des nationalistischen Schwarzen Blocks patrouillieren wichtigtuerisch herum. Einige Zuschauer sind nur wegen des Spektakels gekommen und freuen sich über den Kitzel.
Dann beginnt der rechte Protestzug. Teils vermummte Männer mit der Aufschrift "Allpolnische Jugend" laufen untergehakt als Reihe voran, so dass der Marsch "freie Bahn" hat. Die Flaggen der rechten Organisationen wehen, "Tod den Feinden des Vaterlandes" und ähnliches wird geschrien. Böller fliegen, Bengalos brennen im bereits trüben Licht des späten Nachmittags.
Der Marsch führt über die Weichsel, über die breite Poniatowskibrücke und dann zu einem großen Platz neben dem Nationalstadion. Wer abkürzen will, nimmt den Regionalzug, der auf einer Nebenbrücke fährt. Doch dies ist gefährlich, denn die Marschierenden werfen Böller auf die Wartenden auf den tiefer gelegenen Bahnsteig, der glücklicherweise teilweise durch Betonplatten abgedeckt ist. Verängstigte Kinder und auch hier keine Polizei in Sicht. Zehn Minuten dauert das Bombardement, dann kommt endlich der Zug.
Jesus, der Plattenbau und die bösen Eliten
Auf dem Stadiongelände empfängt "Royal Age" die ersten Teilnehmer des staatlichen Marsches mit schnell gespieltem Heavy Metall. Die katholische Patriotismus-Band singt von der Verteidigung Jesus Christus', dem Leben im Plattenbau und den bösen Eliten. Auch hier geben die nationalistischen Veranstalter den Takt vor, sie haben Bands und Rapper aus dem rechten Spektrum eingeladen. Längst ist es dunkel geworden.
Mit dem Zug zurück zur Jerusalem-Allee. Noch immer zieht ein Strom von Menschen auf der breiten Straße Richtung Brücke. Insgesamt 250.000 wird es später heißen. Etwa hundert Personen sind von Polizisten umzingelt und halten Schilder mit Aufschriften wie "Schande" oder "Verfassung" hoch - eine Anspielung auf die umstrittene Justizreform der Regierung. "Rotes Gesindel" schallt es vom Marsch zu den Protestierenden herüber. Die sind zumeist um die 60 - die typischen Vertreter der urbanen Solidarnosc-Generation.
Ein Mann mit rotweißer Mütze beschimpft die Polizisten: "Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?" Eine Frau Anfang Sechzig, die sich Barbara Konecka nennt, wendet sich an den Betrachter. "Seit Stunden werden wir hier beschimpft, immer versucht uns jemand zu attackieren". Sie habe sogar das Keltenkreuz auf dem Umzug gesehen. Ihre Eltern und Großeltern hätten im Warschauer Aufstand gegen die Waffen-SS gekämpft und nun erlaube die Regierung so etwas. Sie sagt, dass es kaum echte Warschauer auf dem Marsch gebe, die meisten seien vom Land und hätten kein geschichtliches Verständnis.
Ein anderes Gespräch zwischen einer linken Demonstrantin und zwei Männern mit "Unabhängigkeitsmarsch"-Emblem an der Jacke verläuft so: Ob sie denn wirklich Faschisten seien fragen die Männer rhetorisch, die hartnäckig verneinen, die Freiheit der Anderen beschränken zu wollen. Eine ruhige Diskussion. Auch das gibt es.
Die Regierung wollte oder konnte sich nicht abgrenzen
Langsam verläuft sich der Marsch. Einige der Protestler schlüpfen durch die Reihen der Polizisten und gehen nach Hause. Später ist in den Nachrichten zu hören, dass Mitglieder der Allpolnischen Jugend eine EU-Fahne verbrannt haben, dass Flaschen in Richtung der Protestierenden geflogen seien. Es gab an diesem Tag zwar noch weitere Feierlichkeiten - eine historische Inszenierung, ein Jubiläums-Picknick, einen Volkslauf, die Rede des Präsidenten vor dem Grab des Unbekannten Soldaten - doch der Unabhängigkeitsmarsch war das Hauptevent. Und der steht nun symbolisch dafür, dass sich die Regierung in Warschau nicht von extremen, antieuropäischen Kräften abgrenzen konnte oder wollte.