Mutter Hölle

Die brennende Synagoge in Frankfurt am Main in der Reichskritallnacht.
© Pinkas Kehilot/Yad Vashem Archives
Die brennende Horowitz Synagoge in der von den Nazis so genannten "Reichs-Kristallnacht" 1938 in Frankfurt am Main.
Mutter Hölle
Am 9. November 2018 ist die Reichsprogromnacht 80 Jahre her. Der Historiker Henry Wassermann über den Aufstieg der NSDAP, das Schicksal hessischer Juden und Gerichtsverfahren gegen die Täter der Reichsprogromnacht im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg.
09.11.2018
übersetzt aus dem Englischen von Lilith Becker
Henry Wassermann

Um 1980 wurde ich von Yad Vashem, der israelischen Staatsbehörde für das Gedenken an die Opfer der Ermordung der europäischen Juden durch den deutschen Staat, als Chefredakteur nach Hessen entsandt. Ich sollte den dritten Band einer Schriften-Reihe herausgeben, mit dem Namen: "Pinkas Kehillot Germania". Eine Enzyklopädie jüdischer Gemeinden in Deutschland, die während des dritten Reiches vernichtet wurden.

Das riesenhafte Projekt sollte die Existenz und die Vernichtung der vielen Tausend Gemeinden in ganz Europa dokumentieren, die während des Zweiten Weltkrieges ausgerottet wurden.

Meine Aufgabe war es, die Geschichte der etwas mehr als 400 jüdischen Gemeinden in Hessen, und der damals preußischen Provinz Hessen-Nassau, zu dokumentieren. Das Gebiet umfasste auch Frankfurt, so wie ein paar Nachbarstaaten und Enklaven wie Waldeck-Pyrmont.

Thora-Einweihung in Bad Homburg.

Ich hatte ein kleines Team von Mitarbeitern und Freiwilligen unter meiner Aufsicht - einschließlich eines jungen deutschen Freiwilligen aus der Aktion Sühnezeichen.

Ich bemühte mich historische Quellen zu finden und zu nutzen, die es ermöglichten, die Ereignisse zu rekonstruieren, die in mehr als 400 jüdischen Gemeinden gleichzeitig stattgefunden hatten.

Eine unserer wichtigsten Quellen wurde uns von der noch heute aktiven "Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen" zur Verfügung gestellt. Ein zweibändiges Werk mit dem Titel "Justiz und Judenverfolgung". Der zweite Band heißt "NS-Verbrechen vor Gericht 1945 und 1955: Dokumente aus hessischen Justizakten". Er wurde herausgegeben von Moritz Klaus und Ernst Noam und ist 1978 in Wiesbaden erschienen.

Diese Bände sind eine unschätzbare Quelle, wenn man sich mit der Geschichte der vielen Juden in den ländlichen Regionen Hessens vertraut machen möchte. Der größte Teil des Textes ist den Gerichtsverfahren gegen deutsche Dorfbewohner gewidmet, die beschuldigt werden, die Synagogen in ihren jeweiligen Dörfern in Brand gesetzt zu haben.

Professor Henry Wassermann unterrichtete von 1985 bis 2013 Allgemeine und Jüdische Geschichte an der Open University in Tel Aviv
Von besonderem Interesse für mich waren die Urteile, die deutsche Richter gegen die angeklagten hessischen Dorfbewohner erlassen hatten. Denn in ihnen hoffte ich Informationen über das Schicksal der Juden während der verhängnisvollen Reichsprogromnacht zu finden. Wurden sie gedemütigt und geschlagen? Von wem? Wurden Thora-Rollen entweiht und von wem? Ich hatte viele Fragen, von denen die meisten jedoch unbeantwortet blieben. Denn die Gerichtsverfahren konzentrierten sich mehr auf die Komplizenschaft und das Verhalten der Täter - und nicht auf das Schicksal ihrer jüdischen Nachbarn.

Unser Band über die Geschichte und das Schicksal der 400 jüdischen Gemeinden in Hessen wurde schließlich 1992 in Jerusalem - natürlich in Hebräisch - herausgegeben und wiegt 2,25 Kilogramm! Er ist übrigens in der Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main im Judaica-Lesesaal zu finden.

Der oben erwähnte Band über die Gerichtsakten führte mich ins Hessische Staatsarchiv in Wiesbaden. Dort fand ich mithilfe von Prof. Dr. Wolf-Arno Kropat (1932-2004) weitere Prozessakten.

Ich erinnere mich genau, dass die Prozessakten viele Fragen in mir aufwarfen und bedauere, dass ich nie die Zeit und Energie hatte, ihnen weiter nachzugehen.

Bad Homburg, Obertaunuskreis. Die zerstörte Synagoge nach der Reichsprogromnacht am 9. November 1938.
Zunächst ein paar Worte über die Häufigkeit und den Grad des Antisemitismus in Hessen. Während des Zweiten Reiches erlebten beide Teile von Hessen den Aufstieg und die Gründung neuer politischer Parteien, die vom vorhandenen und sich ausbreitenden Antisemitismus angeheizt wurden.
Die deutsche Sieben, die antisemitische Gruppe "Berliner Bewegung": Otto Glagau (Mitte), im Uhrzeigersinn Adolf König, Bernhard Förster, Max Liebermann von Sonnenberg, Theodor Fritsch, Paul Förster und der hessische Bauernkönig Otto Böckel, ca. 1880.
Hier ist der Name des Marburger Bibliothekars Dr. Otto Böckel (1859-1923) zu nennen. Er erhielt den Titel "Hessischer Bauernkönig". Nach den Reichstagswahlen 1887 wurde er als erster antisemitischer Delegierter gewählt.

Danach wurde er immer wieder gewählt und bald gab es 16 und dann 22 antisemitische Delegierte im 397-köpfigen Gremium des Reichstages. Einige wurden regelmäßig von ihren hessischen Wahlkreisen gewählt. Hessen wurde über viele Jahrzehnte zu einer Brutstätte antisemitischer Aktivitäten. Dies verhalf der NSDAP später zu erheblichen Erfolgen in vielen hessischen Dörfern, und anschließend auch der NPD zu kleineren Erfolgen.

In unseren "Pinkas", unserer Enzyklopädie für Yad Vashem, konnten wir darauf hinweisen, dass die Wahlerfolge der NSDAP stark von bestimmten demographischen Faktoren beeinflusst waren. Es scheint, dass der Erfolg der Nazis in hohem Maße von der Größe der Wählerschaft abhing; je kleiner die Zahl der Wählerschaften in einem Dorf, desto mehr Stimmen erhielten die Nazis. Je höher der Prozentsatz der Protestanten in einem Dorf - desto höher war auch der Prozentsatz der Wähler für die NSDAP.

Weitere sozioökonomische Faktoren waren das Vorhandensein einer Bevölkerung, die nicht von Landwirtschaft lebte, sie verringerte tendenziell die Wahlerfolge der Nazis.

Aber im Allgemeinen gab es viele kleine Dörfer und Städte in Hessen, in denen sich Juden unerwünscht fühlten. Viele Tausend Juden, insbesondere jüngere, zogen nach der Machtergreifung vom 30. Januar 1933 aus ihren Häusern aus und zogen in die Hauptstädte.

Es folgten sechseinhalb Jahre antisemitische Propaganda und Gesetzgebung, und in vielen Hundert hessischen Gemeinden sank die Zahl jüdischer Einwohner.

Die Attacken auf die Juden in der Reichsprogromnacht folgten nach dem 7. November 1938, als der polnische Jude Herszel Grynspan einen deutschen Diplomaten in Paris ermordete. Die oberen Ränge der NSDAP waren in Nürnberg versammelt und nutzten den Mord, um die örtlichen Anführer der SA-Einheiten anzustiften, sich an den Juden zu rächen. Der Aufruf an die SA erfolgte telefonisch aus Nürnberg in der Nacht vom 9. auf den 10. November. Die Schlüsselfigur war der Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels.

Hessen unterschied sich allerdings von anderen Teilen des Landes: Einige lokale NS-Behörden begannen schon am 7. und 8. November 1938 Juden und jüdische Einrichtungen anzugreifen. Sie taten das auf eigene Initiative, ohne einen Befehl von oben. Einheiten der SS spielten dabei eine unheimliche Rolle, auf die wir hier nicht weiter eingehen können.

Und nun zu der Frage, die mir die Redaktion von evangelisch.de gestellt hat: "Wie haben sich die Christen nach der Reichsprogromnacht gegenüber den jüdischen Gemeinden verhalten?"

Außenansicht einer Frankfurter Synagoge vor der Renovierung.
Es tut mir sehr leid, dass ich mit einer spärlichen Antwort enttäuschen muss. Zunächst: In den mehr als 400 hessischen Dörfern und Kleinstädten, die ich untersucht habe, waren alle Einwohner, die Synagogen angezündet und Menschen jüdischen Glaubens attackiert haben, natürlich "Christen" - und manchmal auch recht fromme! - aber ihre Motive lassen sich nicht auf ihren Glauben zurückführen. Insoweit man ihre Motive rekonstruieren kann, wurden ihre antisemitischen Aktionen, die auf den Tod des deutschen Diplomaten in Paris folgten, durch ihre Selbstidentifikation als deutsche Patrioten angeheizt. Viele davon waren biedere Bauern, gierig, sie begehrten die Besitztümer, real oder imaginär, ihrer jüdischen Nachbarn.

Nach meinem Wissen spielte ihr Christsein dabei keine Rolle. Die hessischen Juden wurden nicht angegriffen, weil sie "unseren Heiland" gekreuzigt hatten, wie zum Beispiel im Mittelalter. Das Christentum spielte eine sehr untergeordnete Rolle. Ich erinnere mich, dass die Randalierer an einigen Stellen Steppdecken von wohlhabenden Juden aufschlitzten und die Federn von weit oben aus den Fenstern auf die Straßen schüttelten, um freudig auszurufen: "Ich bin Mutter Hölle!" Nach dem Märchen aus der Grimm-Sammlung. Was für eine schreckliche Wunscherfüllung!

Einrichtung einer Frankfurter Synagoge vor dem Krieg.
Die Habgier spielte eine viel wichtigere Rolle, nicht nur, um Dorfbewohner und Bauern zu motivieren in die Häuser von wohlhabenden Juden einzubrechen und ihre Güter zu stehlen. Auch Synagogen waren nicht davor vor den Menschen gefeit, die ihren jüdischen Mitbürgern Dinge von unschätzbarem Wert raubten. Während des Zweiten Weltkrieges war es zudem eine gemeinsame Politik der lokalen Behörden, die Immobilien und Ländereien der jüdischen Gemeinden mit rechtlichen Mitteln der "arischen" Gemeinschaft zu übereignen. Von den NS-Behörden wurden sie zudem dazu ermutigt, den Juden auch ihre Friedhöfe, Synagogen und Ritualbäder wegzunehmen.

Diese Entwicklungen lassen sich in der Arbeit meiner Freundin Dr. Thea Altaras (1924-2004) aus Gießen nachvollziehen. Insbesondere in "Synagogen in Hessen: Was geschah seit 1945?" und auch in anderen ihrer Bücher, beispielsweise über das Schicksal der Ritualbäder.

Die Hauptantwort auf die Frage der Redaktion lautet deshalb: Gier, mehr Gier, und ein unersättlicher Wunsch, die Erinnerung an die Existenz von Juden auf der Erde auszurotten.

Es hat viele Jahrzehnte gedauert, bis Anzeichen von Reue unter den Christen festgestellt werden konnten. Insbesondere an den Orten, an denen die Angriffe am heftigsten waren. Viel häufiger war das Ignorieren, Vergessen und Leugnen. Nicht nur Jahrzehnte nach den Ereignissen, sondern insbesondere in den unmittelbaren Jahren nach Kriegsende.

Zusammenfassend möchte ich den Eindruck schildern, den die Durchsicht der vielen Akten über die Gerichtsverfahren gegen die Täter bei mir hinterlassen haben. Es geht um das Jahrzehnt nach 1945, als die amerikanischen Behörden die Deutschen entnazifizierten, als es noch ein Interesse und die Motivation gab, Taten aufzuklären.

Ein Ziel war es, die Täter für die Angriffe auf Synagogen, Wohnhäuser, Menschen jüdischen Glaubens und andere jüdische Institutionen zur Verantwortung zu ziehen. Schon als ich die ersten Gerichtsakten las, war ich verblüfft über das Verhalten der angeklagten Täter. Sie weigerten sich systematisch jegliche Schuld anzuerkennen. Die Beweise gegen sie waren oft überwältigend - Aussagen von Augenzeugen, Nachbarn, Freunden und manchmal sogar von Verwandten - aber ohne Erfolg: Die angeklagten Verbrecher bestritten weiter jegliche Mitschuld. Die Täter sahen sich mit Haftstrafen von einigen Jahren konfrontiert, wenn sie verurteilt wurden. Wenn sie kooperiert hätten und ein gewisses Maß an Schuld eingestanden hätten, wäre die Strafe möglicherweise milder ausgefallen. Aber sie blieben stur, weigerten sich Schuld oder Mitschuld zuzugeben.

Ich war fasziniert und wollte dieses Phänomen wieder vertiefen. Aber aus vielen Gründen fand ich keine Gelegenheit dazu, bis Sie, die Redaktion von evangelisch.de, mich an meine selbsternannte "Ehrenbürgerschaft" Hessens erinnerten. Zum 80-jährigen Gedenken der Reichsprogromnacht. Sie - und die Leser von evangelisch.de, sind hiermit eingeladen, meine wenigen Zeilen als Denkanstoß über die menschliche - und hessische - Natur zu betrachten.