Ausschreitungen in Chemnitz: Eine Niederlage für Deutschland

evangelisch.de/Simone Sass
Ausschreitungen in Chemnitz: Eine Niederlage für Deutschland
Die Rechtsextremen in Chemnitz und anderswo wollen ein anderes Deutschland: nationalistisch, rassistisch, gefährlich. Die Anfänge sind schon überschritten, denen wir wehren müssen. Diese selbsternannten Patrioten sind aber diejenigen, die Deutschland am wenigsten lieben.

Zwei Tage lang haben Rechtsextreme, Rassisten und Neonazis in Chemnitz die Menschen auf der Straße terrorisiert. Dass sich rund 2.000 Demokratiefeinde so versammeln, ist für ganz Deutschland ein Problem, nicht nur für Sachsen. Denn wer – wie ich und viele andere, die nicht in Chemnitz waren – auf Twitter mitliest (#chemnitz für allgemeine Beobachtungen, #c2708 und #c2808 für Liveberichte), lernt schnell, dass es nicht um lokale Proteste gegen Ausländer geht, ausgelöst vom Mord an Daniel H., der mit einem Messer erstochen wurde. Die Polizei hat zwei Tatverdächtige in Untersuchungshaft, einen Mann aus Syrien und einen aus dem Irak. Dass der Rechtsstaat hier seinen Job macht, ist den marschierenden Rechtsradikalen aber egal.

Alles, was sie brauchten, war ein Anlass, um ihren Hass aus dem Internet auf die Straße zu bringen. Für sie ist es die Rückeroberung eines Deutschlands, in dem Demokratie, Freiheit und Recht erst wieder gelten sollen, wenn niemand mehr da ist, der diese Werte ernst nimmt. Niemand kann sich in der Gegenwart der Hitlergrüßer sicher fühlen, der nicht eindeutig weiß ist und eindeutig auf ihrer Seite steht. Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund und nicht-weißer Hautfarbe, Antifa, widersprechende Demokraten, Journalisten, Polizisten – es war für alle gefährlich für Leib und Leben, gestern Abend in Chemnitz zu sein.

"Wir werden nicht zulassen, dass Chaoten diese Stadt für ihre Zwecke vereinnahmen können", hatte die sächsische Polizei angekündigt. Das ist nicht gelungen. Trotz Vorwarnungen waren nicht genug Polizisten vor Ort, um Gegendemonstranten und Journalisten zuverlässig zu schützen. Erst recht nicht, um alle Hitlergrüße zu ahnden. (Nachträglich berichtet die Polizei von zehn solcher Anzeigen.) Außerdem ist "Chaoten" das falsche Wort. Die Rechtsextremen sind nicht chaotisch, sie sind gut organisiert. Über Twitter, Facebook, Hooligan-Netzwerke oder nicht-öffentliche Gruppen können sie binnen Stunden solche Zusammenrottungen organisieren.

Politisch legitimiert werden sie von der AfD. Bundestags-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel lieferte ein Paradebeispiel für deren Spagat zwischen Beschwichtigen und Aufhetzen: Neben einem Foto mit der Schlagzeile "Das Abschlachten geht immer weiter!" ruft sie zu "friedlichem Protest" auf und kritisiert eine "Spaltung der Gesellschaft", die sich "in Form anschließender Gewalt auf Chemnitz' Straßen" entlud. Dass diese Gewalt von deutschen Rechtsextremen ausgeht, lässt sie unerwähnt. Deutsche sind in der Welt der AfD und der Hitlergrüßer auf Chemnitz' Straßen keine Täter, sondern immer Opfer.

Die Rechtsextremen sind nicht die Opfer

Die Straßenschläger von Chemnitz sind aber keine Opfer. Sie sind in voller Absicht rechtsextrem, nationalistisch und gewalttätig. Aus Rassismus schlagen sie auf nicht-weiße Menschen ein. Davor skandieren sie: "Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen". Dabei sind sie doch diejenigen, die Deutschland am wenigsten mögen: ein wiedervereinigtes, tolerantes Land, eingebunden in Europa, in dem sich jede*r frei entfalten darf, weil das Recht auf Würde, Unversehrtheit und Freiheit für alle gleichermaßen gilt. Wer diese Rechte so einschränkt wie der rechte Straßenmob, ist ein Verfassungsfeind. Denn diese Menschen wollen nicht die Durchsetzung geltenden Rechts für Mord oder Hitlergrüße. Sie wollen ein anderes Deutschland, ein nationalistisches, rassistisches Land, in dem sie ungestört ihre Fantasie einer männergesteuerten Kreuzzugsmacht ausleben können, ohne Juden, Muslime, Queers, starke Frauen, Demokratie oder Gewaltenteilung.

Glauben Sie nicht? Dann nehmen Sie sich mal eine Stunde Zeit und lesen die Tweets & Antworten, die auf Twitter unter #chemnitz von den Leuten mit rotem X hinter dem Namen kommen, oder die mehr als 2.300 Kommentare unter dem Facebook-Post von Alice Weidel. Die Anfänge sind schon längst überschritten, denen wir wehren müssten.

Was also tun? Mindestens müssen die Kirchen und Gemeinden in Chemnitz und überall, wo Rechtsextreme und Nazis marschieren, ihre Türen öffnen und denjenigen Schutz bieten, die vor akuter Gewalt fliehen.

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Wir müssen immer wieder sagen und zeigen, dass alle, die Hass und Gewalt auf diese Weise verbreiten, sich nicht auf Christsein berufen können. Das hat nichts mit der angeblichen "Verteidigung" eines angeblich "christlich-jüdischen Abendlandes" zu tun. Kirchengemeinden müssen inklusiv sein und bleiben. Auch hinter verschlossenen Türen in Gemeinderäten und Presbyterien dürfen nationalistische Tendenzen nicht unwidersprochen bleiben.

Zugleich muss der Staat deutlich zeigen, dass Verfassungsfeinde und Gewalttäter in der Öffentlichkeit keinen Raum haben. Das ist eine Aufgabe der Polizei, die in Sachsen dabei offenbar entweder überfordert oder unwillig ist. Aber nicht nur dort. Vor fast genau 26 Jahren hat die Polizei in Rostock-Lichtenhagen den Rassisten das Feld überlassen, 2015 auch in Heidenau und Freital. Für Rechtsextreme ist jeder Tag wie gestern ein Sieg – und damit eine Niederlage für Deutschland.

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