Das könnte eine interessante Geschichte sein, wenn sie nicht schon so oft erzählt worden wäre; auch und gerade vom ZDF. Bei "Liebe bis in den Mord" ist immerhin niemand auf die Idee gekommen, Mutter und Kind zu Geschwistern zu machen, wie in "Ein Geheimnis im Dorf - Schwester und Bruder" oder wie in "Das Dorf des Schweigens" (beide 2016), aber die Sujets sind doch recht ähnlich. Eine weitere Parallele ist der im Titelzusatz "Ein Alpenthriller" vermerkte Schauplatz in den Bergen (diesmal das bayerische Alpenvorland). Dank des Etiketts sind Genre und Spielort schon vorab definiert; das ZDF versieht seine Filme und Reihen ohnehin gern mit solchen Aufklebern. Endgültig einfallslos wirkt schließlich die Besetzung des Opfers mit Felicitas Woll, die eine ganz ähnliche Rolle in dem ausgezeichneten Sat.1-Drama "Die Ungehorsame" (2015) gespielt hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Doch dann befreit sich "Liebe bis in den Mord" nach und nach von den Vorbehalten; das Drehbuch des fleißigen Jürgen Werner emanzipiert sich regelrecht von dem Vorwurf, ein Konstrukt zu sein, das bekannte Versatzstücke in neuer Zusammensetzung präsentiert. Trotzdem lässt sich die Qualität des Films vor allem an den beiden Hauptdarstellern festmachen: Woll bietet bei ihrer Verkörperung der geschändeten Sonja, die auf Anraten ihrer älteren Schwester Birgit (Nina Kronjäger) nicht zur Polizei geht, als ihr Jugendfreund Adrian sie vergewaltigt, viel Raum für Empathie. Gewissermaßen eine Entdeckung ist jedoch Gabriel Raab, der nach seiner bemerkenswerten ersten Hauptrolle in dem Heimatdrama "Totentanz" (2009) meist in Nebenrollen zu sehen war. Adrian, der auf irritierende Weise dem ZDF-Neo-Bösewicht Jan Böhmermann ähnelt, ist geradezu ein Bilderbuchschurke und erinnert an die Art, wie Tom Hiddleston den durchtriebenen Loki in den "Thor"-Abenteuern verkörpert: sanft lächelnd und zuvorkommend, aber immer wieder mit süffisant-provokanten Nadelstichen.
Interessant ist zudem der Rahmen, in den Werner den Handlungskern gebettet hat: Sonjas Vater ist ein "Zugereister", den die Dorfgemeinde nie akzeptiert hat. Auch die beiden Schwestern leiden unter diesem Dünkel; dass sie als einzige hochdeutsch reden, ist ein simpler, aber wirkungsvoller Beleg ihres Daseins als Außenseiter. Deshalb hat Birgit der Schwester damals geraten, das Geheimnis für sich zu behalten, und auch ihren Verlobten, Thomas Gruber (Thomas Unger), nicht einzuweihen. Viele Jahre später rächt sich das: Den Grubers gehört eine Molkerei, die von der Insolvenz bedroht ist; die örtliche Bank, obwohl Anteilseigner, will keinen Kredit mehr gewähren. Als Retter in der Not erscheint ausgerechnet der zwischenzeitlich zu Geld gekommene Adrian. Endlich weiht Sonja ihren Mann ein, doch seine Mutter (Gisela Schneeberger), die ohnehin von Anfang an überzeugt war, ihre Schwiegertochter habe sich ins gemachte Nest gesetzt, will um jeden Preis den Betrieb vor der Pleite bewahren. Als Thomas bei einer Motorradfahrt ums Leben kommt, keimt in Sonja der Verdacht, Adrian habe ihn auf dem Gewissen. Im Dorf sind sie dagegen überzeugt, sie habe ihren Mann in den Tod getrieben; man behandelt sie wie eine Aussätzige. Selbst Birgit stellt sich gegen sie, weil auch ihre Existenz von der Rettung der Molkerei abhängt; nur eine engagierte Polizistin (Marlene Morreis) glaubt die Geschichte von der Vergewaltigung. Als Sonja sogar Tochter Anna an Adrian zu verlieren droht, sieht sie nur eine Chance: Sie muss sich auf sein Spiel einlassen; aber zu ihren Regeln. Und jetzt, zum letzten Akt, wird "Liebe bis in den Mord" Film dem Titelzusatz "Ein Alpenthriller" gerecht.
Thomas Nennstiel, der eine Weile lang auf harmlos-heitere Komödien abonniert war ("Der Stinkstiefel", "Idiotentest"), hat "Liebe bis in den Mord" unauffällig inszeniert, aber auch die naheliegenden Klischees vermieden. Die Landschaft zum Beispiel wird eher beiläufig ins Bild gesetzt. Natürlich gibt es das eine oder andere Alpenpanorama (Kamera: Reiner Lauter), und nach der Vergewaltigung senkt sich düster der Hochnebel auf die Bäume herab, doch die entsprechenden Einstellungen sind Teil der Handlung. Plakative Bilder wie der mit dräuender Musik unterlegte Schnitt auf ein Fleischmesser, als Thomas seiner schockierten Frau den Vergewaltiger als Überraschungsgast zum Abendessen präsentiert, sind die Ausnahme. Der Film zeichnet sich vor allem durch die sorgfältige Arbeit mit den Schauspielern aus; gerade Woll vermittelt die Hilf- und Ausweglosigkeit sehr glaubwürdig. Einzig Gisela Schneeberger fällt aus dem Rahmen: Katharina Gruber ist eine Giftspritze ohne den Hauch eines sympathischen Zuges. Gut geführt ist dagegen die junge Paulina Hobratschk als Sonjas Tochter. Die Rolle ist nicht einfach, weil die Lebensbasis des Mädchens regelrecht zerschmettert wird, denn es verliert seinen Vater gleich zweimal: erst durch den Tod, dann durch einen Vaterschaftstest.
Trotzdem bleiben einige Ungereimtheiten: Auf wundersame Weise haben die 15 Jahre, die nach dem Prolog vergangen sind, bei den Hauptfiguren keinerlei sichtbare Spuren hinterlassen. Nicht immer passend wirkt auch die Musik von Enjott Schneider, die in einigen dramatischen Szenen unangemessen heiter klingt. Und die Erklärung für Adrians unvermitteltes Auftauchen ist pure Küchenpsychologie.