Mit großem Aufwand gerade in den Straßenszenen erzählt der Film die Geschichte eines Mannes, der sich mitten in der urbanen Betriebsamkeit eine Oase geschaffen hat. Als er seine Umgebung eines Tages nicht länger ignoriert, bricht das fragile Gleichgewicht aus Toleranz und Ignoranz in sich zusammen: Antiquar Jordan (Götz George) steht einem Obdachlosen bei, der von einem Jugendlichen fast zu Tode getreten wird. Jordan erkennt den jungen Mann in der Polizeikartei und löst damit eine Spirale des Schreckens aus: Nicht nur er selbst, auch seine Freunde und Familie werden vom Bruder des Jungen bedroht und verletzt. Die völlig überlastete Polizei kann Jordan nicht schützen. Am Ende weiß er sich nicht anders zu helfen und besorgt sich eine Waffe.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Parallelen zu "Wut" sind unverkennbar: Auch dort verriet ein Idealist angesichts der Realität seine Überzeugungen. Allerdings erzählt Autor Jürgen Werner seine Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, so dass die in "Wut" noch klar erkennbaren Grenzen zwischen Gut und Böse viel stärker verwischen. Dank des differenzierten Spiels des Slowenen Marko Mandic ist beispielsweise der Bruder des jungen Delinquenten nicht mal unsympathisch. Selbstverständlich wählt er die falschen Mittel, aber seine Motive sind ehrbar: Er will den Jungen beschützen; nach dem Tod ihrer Eltern im Kosovo-Krieg haben die beiden nur noch sich selbst. Jordan wiederum ist alles andere als ein strahlendes Vorbild. Wohnung und Geschäft sind mit vielen Schlössern und Gitterstäben gesichert, er selbst und sein bester Freund (Hansjürgen Hürrig) begnügen sich mit ihren Erinnerungen an frühere Heldentaten bei Studentenunruhen und Protestdemos. Und der Mann, dem Jordan das Leben gerettet hat, erweist sich als undankbar und pöbelt ihn auch noch an.
Während Afrim, der jugendliche Schläger (Arnel Taci), weitgehend dem Stereotyp des aggressiven Großmauls mit Migrationshintergrund entspricht, wie ihn schon Oktay Özdemir in "Wut" verkörperte, macht Jordans junge Praktikantin Jessica ebenfalls eine Entwicklung durch. Natürlich ist es kein Zufall, dass Jordan ihr "Romeo und Julia" schenkt. Die beiden trennen zwar neben dem sozialen Gefälle auch Jahrzehnte, aber sie repräsentieren die Hoffnung, dass sich die beiden Parallelgesellschaften einander annähern. Das junge Mädchen, von Carolyn Genzkow eindrucksvoll verkörpert, ist die Tochter einer übergewichtigen Mutter (Sabine Orléans), die ihr Dasein nur noch dem Fernsehen widmet. Außerdem ist Jessica Afrims Freundin und deshalb hin- und hergerissen, als sie erst mal Zutrauen zu Jordan gefasst hat. Angesichts der immer weiter eskalierenden Gewalt muss sie sich schließlich für eine Seite entscheiden.
Selbst wenn sich am Ende alles halbwegs zum Guten wendet, ist der Film im Grunde höchst pessimistisch. Wären die Großstadtimpressionen (gedreht wurde in Berlin-Kreuzberg) nicht mit Rap-Musik unterlegt, würden sie vielleicht freundlich multikulturell wirken. So aber vermitteln die Bilder neben urbaner Tristesse vor allem eine latente Aggressivität, die in der Geschichte auch immer wieder zum Ausbruch kommt; ohne jede Perspektive sind die Jugendlichen wie lebende Zeitbomben. Auf der anderen Seite hält sich der Israeli Dror Zahavi ("Die Luftbrücke"), nicht erst seit seinem Kinofilm "Alles für meinen Vater" und der Reich-Ranicki-Biografie "Mein Leben" als Regisseur für große Stoffe anerkannt, bei der Inszenierung zurück. Dank langer Einstellungen und diverser Kamerafahrten strömt die Bildgestaltung (Gero Steffen) mitunter fast eine gewisse Gelassenheit aus. Gleiches gilt für Götz George, der stark zurückgenommen agiert: Teetrinker und Jazz-Liebhaber Jordan ist der ruhende Pol der Geschichte. Schon allein wegen der gemeinsamen Szenen Georges mit der über fünfzig Jahre jüngeren Carolyn Genzkow ist "Zivilcourage" sehenswert.