Weil es in vielen Regionen kaum noch öffentlichen Nahverkehr gibt, sind dort vor allem ältere Menschen von medizinischer Versorgung abgeschnitten. In Hessen gibt es deshalb ein Modellprojekt der kassenärztlichen Vereinigung: Hier macht der sogenannte Medibus jeden Tag über drei Stunden Station in einem Dorf ohne Arzt. Gerade für alte Menschen ist der Hausarzt aber nicht bloß Doktor, sondern auch eine Vertrauensperson. Außerdem ist der zentrale Haltepunkt des Medibusses für sie fußläufig oft nicht zu erreichen. Akute Krankheiten halten sich überdies nicht an den Fahrplan, und ein Wartezimmer hat das Gefährt auch nicht zu bieten.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Frauke Siebold hat sich all’ dieser Probleme in ihrer Reportage "Notfall Hausarzt" angenommen. Neben dem Medibus stellt sie zwei Ärzte vor, um die Bandbreite des Notstands zu dokumentieren: hier ein Kinderarzt aus Nordrhein-Westfalen, dessen Praxis aus allen Nähten platzt, dort eine Hausärztin aus Sachsen, die händeringend ihre Nachfolge regeln will, weil sie demnächst in Rente gehen möchte. Junge Ärzte, heißt es, scheuen die Landarztpraxis, weil sie fürchten, rund um die Uhr arbeiten zu müssen und keine Zeit für ihre Familie zu haben. Die Ärztin versichert allerdings, sie habe ganz normale Arbeitszeiten. Für ihren Kollegen aus NRW gilt das dagegen nicht; 120 junge Patienten pro Tag sind bei ihm keine Seltenheit. Seine Frau arbeitet ebenfalls in der Praxis mit, und weil die Familie der Autorin auch Einblicke in ihr Privatleben gewährt hat, zeigt sich: Die Kinder sind ziemlich unzufrieden mit der Situation, weil sie gerade ihren Vater kaum noch sehen.
Das Thema der Reportage ist hochaktuell und wichtig. Während sich "37 Grad" sonst in der Regel auf Personen konzentriert und daher eher den Charakter einer Porträtreihe hat, geht es Siebold vor allem um den Missstand. Da sie sich auf den Kinderarzt und die Hausärztin konzentriert, kommt der Kollege aus dem Medibus kaum zur Geltung. Stattdessen streut die Autorin wissenswerte Hintergrundinformationen ein, die verdeutlichen, dass sich die Misere in absehbarer Zeit enorm verschärfen wird: Ein Drittel der Hausärzte ist über sechzig. Darüber hinaus hat sie diverse Gespräche mit Patienten geführt, um auch deren Perspektive zu beleuchten.
Beim Handlungsstrang mit dem Kinderarzt gibt es allerdings zwei Momente, die zwar das Spektrum seiner Arbeit beleuchten, aber auch etwas fragwürdig sind: Eine fünfzehnjährige Diabetes-Patientin hat offenbar psychische Probleme und ritzt sich die Unterarme. Gerade bei Kindern und Jugendlichen haben Autorinnen und Autoren solcher Sendungen eine besondere Verantwortung; Siebold hätte das Mädchen so filmen sollen, dass es zumindest nicht auf Anhieb zu erkennen ist. Eine zweite Ebene gilt einer Familie mit einem schwerstkranken kleinen Kind. Für diese Eltern war der Arzt sogar an Heiligabend erreichbar, und der Mutter kommen heute noch die Tränen der Dankbarkeit. Wie viel zu oft in solchen Reportagen geht die Kamera nun nicht etwa diskret auf Distanz, sondern bleibt beim Gesicht der Mutter, getreu der Devise: Emotionen sind Quoten.
Ein weiteres Merkmal von "37 Grad" ist das Bemühen um einen versöhnlichen Schluss. Siebold hätte vermutlich viel dafür gegeben, wenn die Ärztin aus Sachsen tatsächlich eine Nachfolgerin gefunden hätte, aber eine vielversprechende Kandidatin sagt schließlich ab. Die Ärztin ist sichtlich bewegt, die Kamera wartet geradezu auf Tränen, doch die Frau tut ihr den Gefallen nicht. Beim Kinderarzt sorgt die junge Diabetes-Patientin für ein positives Ende, und vielleicht ist das der eigentliche Grund, warum Siebold ihr größeren Platz eingeräumt hat: Das Mädchen war bei einer Therapie und ritzt sich nicht mehr. Allerdings setzt der Arzt gegen Ende auch einen Kontrapunkt, den Siebold jedoch nicht weiter erörtert: Der Mediziner macht die Politik für die unrühmlichen Rahmenbedingungen verantwortlich, aber leider wird nicht vertieft, welche Bedingungen er meint und was die Politik ändern sollte. Der Arzt hätte das sicher gern ausgeführt, doch für "37 Grad" wäre das wohl zu abstrakt geworden. Trotzdem ist die Reportage sehenswert, zumal Siebold mit jedem Wechsel der Ebenen immer wieder neue Aspekte ins Spiel bringt; mitunter drehen sich die "37 Grad"-Beiträge auch im Kreise, weil ein Thema schon nach 15 Minuten erschöpft ist.