Bevor es auf dieser Ebene weitergeht, muss aber erst mal Jürgen Simmel (Hinnerk Schönemann) eingeführt werden: Der Polizist hat sich einen Kaffee geholt, schaut zwei Frauen nach und wird von einem Radfahrer angerempelt. Für die eigentliche Geschichte ist diese Szene völlig unwichtig, aber sie schafft die Basis für gleich drei Nebenebenen: Dank der Schmerzen in seiner Schulter hat Simmel einen Vorwand, um sich von der Kollegin des Opfers behandeln zu lassen. Da der rüpelhafte Radfahrer abgehauen ist, aber sein Fahrrad zurückgelassen hat, kommt es zu einigen Geplänkeln zwischen dem Kommissar und seinem Chef (Thomas Heinze), denn Simmel hat das Rad mit ins Büro gebracht. Und weil es später im Kofferraum des Einsatzwagens landet, kann er die Verfolgung eines Verdächtigen fortsetzen, als er mit dem Auto nicht mehr weiterkommt.
Das ist alles clever ausgedacht, aber auch ein Kunstgriff, mit dem sich das Drehbuch (Christian Schiller, Marianne Wendt) aushebeln lässt, denn natürlich ist das Fahrrad bloß ein Vorwand, der zudem nicht mal besonders plausibel weitererzählt wird. Auch Jürgen Simmel ist gleichzeitig Stärke und Schwäche des Films, oder richtiger gesagt: Seine Verkörperung durch Hinnerk Schönemann. Er versieht den Kommissar immer wieder mit Gesten, die wunderbar unangestrengt wirken und regelmäßig für kleine Heiterkeitsmomente sorgen. Für Schönemann-Fans ist das ein Fest; Krimipuristen werden jedoch einwenden, dass Regisseur Florian Kern ("Marie Brand und die rastlosen Seelen" ist seine vierte Arbeit für die Reihe) mit diesen Einlagen immer wieder den Fluss der Handlung stört. Die Führung der Darsteller ist ohnehin nicht rundum gelungen. Einige Szenen wirken, als hätte Kern sie noch mal drehen sollen. Auch typische Zwischenschnitte, wenn bei Dialogen die Reaktionen der Zuhörer gezeigt werden, wirken nicht immer glaubwürdig.
Ein weiteres Manko ist das Thema: Die ermordete Frau war eine selbsternannte Schamanin, weshalb die rationale Marie Brand fortan jede sich bietende Gelegenheit nutzt, um ihre Vorbehalte gegen Esoterik aller Art zu artikulieren. Während es Mariele Millowitsch sonst meist gelingt, das enzyklopädische Wissen der Kommissarin eher beiläufig an den Mann (ihren Kollegen nämlich) zu bringen, sind ihre entsprechenden Monologe diesmal weitere kleine Stolpersteine. Beides, Brands Dozieren wie auch Simmels Faxen, sind jedoch fester Bestandteil der Figuren und fallen auch nur deshalb ins Gewicht, weil sie in früheren Filmen eleganter integriert worden sind; diesmal lässt Schönemanns Slapstick den Film mitunter fast zur Krimikomödie zu werden. Andererseits ist es wunderbar gespielt, wie der Kommissar mit dem präkolumbianischen Wandschmuck im Wartezimmer hantiert, um sich die Zeit zu vertreiben, während sich die Kollegin unter den Händen von Kyra (Annina Hellenthal), der Praxispartnerin des Mordopfers, auf eine schamanische Reise begibt. Simmel ist selbstredend sehr angetan von der attraktiven Heilpraktikerin. Später greifen Buch und Regie die Szene mit dem Wandschmuck wieder auf, als der unfreiwillig unter Drogen stehende Kommissar versucht, Brand eine halluzinierte Maske vom Gesicht zu nehmen, und darunter immer wieder eine neue zum Vorschein kommt. Es ist bezeichnend, dass Einfälle wie diese überhaupt nichts mit der Krimihandlung zu tun haben; sie lenken erfolgreich von gewissen Schwächen der Geschichte ab. So hat zum Beispiel die tote Schamanin bei der Waldzeremonie nur deshalb eine Steinaxt im Gürtel stecken, damit sie damit erschlagen werden kann.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Trotzdem ist "Marie Brand und die rastlosen Seelen" keine Zeitverschwendung. Die Geschichte ist durchaus interessant, weil sich schließlich rausstellt, dass die Frau ihr Wissen benutzt hat, um ihre Klienten zu erpressen. Als besonders ergiebig entpuppt sich dabei eine Mutter (Ulrike C. Tscharre), deren Sohn vor einem Jahr spurlos verschwunden ist, weshalb Brand und Simmel am Ende zwei Fälle auf einen Streich lösen. Sehenswert ist auch die Bildgestaltung durch Gerhard Schirlo, und das nicht nur wegen der durch Fackelschein illuminierten Waldszene zu Beginn. Für Simmels obligate Verfolgungsjagden hat Schirlo einige ungewöhnliche Kameraperspektiven gefunden. Außerdem gibt es ein paar hübsch ausgedachte Szenenwechsel. Dass der Nebel aus dem Prolog auch durch die Behandlungsräume und die Wohnung des Mordopfers wabert, ist zwar unlogisch, verleiht den entsprechenden Aufnahmen aber ein ganz eigenes Flair. Die elektronische Musik (Florian Tessloff) wabert ebenfalls, und zwar durch den gesamten Film, doch sie passt ebenso zum Gesamtpaket wie die gelegentlichen Popsongs, die hier im Gegensatz zu vielen romantischen Komödien akzentuiert und treffend eingesetzt werden.