Das liegt nicht zuletzt am erfahrenen Autor: Norbert Ehry hat sein erstes "Tatort"-Drehbuch bereits Ende der Siebziger geschrieben ("Ende der Vorstellung", unter dem Pseudonym Hans Riesling). Hier erzählt er ein Familiendrama, das an den "Fall Reinhardt" (2014) erinnert. Damals tappten die Kölner Kommissare Ballauf und Schenk (Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär) ähnlich im Dunkeln: Eine Mutter und ihr kleiner Sohn sind ermordet worden; die achtjährige Anna konnte sich im Keller verstecken. Ballauf verdächtigt umgehend den in sich gekehrten und nur bedingt kooperativen Lebensgefährten (Alexander Beyer), der in der Mordnacht in Frankfurt war, aber für die Tatzeit kein Alibi hat. Der Filmtitel legt ohnehin einen Amoklauf oder einen erweiterten Suizid nahe. Die Frau ist mit mehreren gezielten Stichen getötet worden; ein derartiger "Overkill", wissen Krimifans, deutet immer auf eine Beziehungstat hin. Schenk, selbst Familienvater, ist allerdings empört. Ihm ist die Vorstellung sympathischer, dass die Tat einen Bezug zum Beruf des Mannes hat: Sven Habdank ist Steuerfahnder und nimmt seinen Job offenbar sehr ernst. Tatsächlich gibt es zwei Kandidaten, die sich von ihm schikaniert fühlen.
Die Lösung ist letztlich selbstredend eine ganz andere, aber die Stärke des Films ist ohnehin weniger die reine Geschichte, sondern die Konstellation der Figuren sowie Seumes hochkonzentrierte Umsetzung. Zwischendurch gibt es ein paar Ausreißer, wenn sich einer der Verdächtigen, ein Journalist (Peter Benedict), über die Fragwürdigkeit sogenannter Steuer-CDs auslassen darf oder den Beamten vorhält, er werde als Freiberufler noch mit 70 arbeiten müssen, während sie schon seit zehn Jahren den vorzeitigen Ruhestand genießen könnten; die entsprechenden Dialogsätze wirken wie Fremdkörper und in den Mund gelegt. Auch der Seitenstrang mit einem Unternehmer (Max Herbrechter), dessen Existenz Habdank auf dem Gewissen hat, führt allzu weit vom Kern der Handlung weg.
Umso intensiver sind dagegen sämtliche Szenen, in denen sich Ehry und Seume voll und ganz auf die familiäre Situation einlassen. Die Familienmitglieder sind nicht prominent, aber sehr treffend besetzt, allen voran mit Christian Erdmann als Bruder des Steuerfahnders, der seine Schwägerin geliebt hat, sowie Stephan Szasz als Habdanks Schwager. Es fällt auf, dass Frauen in der Geschichte praktisch keine Rolle spielen. Mit Ausnahme der Schwester (Nicola Schössler) des Opfers ist "Durchgedreht" ein reiner Männerfilm. Den entscheidenden Part hat allerdings das kleine Mädchen inne. Anna hat zwar nicht das Gesicht des Mörders gesehen, aber seine markanten Turnschuhe, und selbstredend steuert der Krimi auf jenen Punkt zu, an dem sie diese Schuhe wiedererkennt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Seume hat bislang nur eine Handvoll Filme gedreht, darunter den sehenswerten tragikomischen ARD-Freitagsfilm "Alleine war gestern" (2015), aber sie hat auch ihren zweiten "Tatort" aus Köln auf hohem handwerklichen Niveau inszeniert; die Bildgestaltung besorgte wie schon bei "Benutzt" Gunnar Fuß. "Durchgedreht" ist zwar erneut nicht sonderlich temporeich, aber gerade zu Beginn gibt es einige subtil die Spannung steigernde Parallelmontagen; und zum Schluss, als der Täter die kleine Zeugin entführt, ziehen Fuß und Seume mit einigen schwungvollen Kamerafahrten alle Register für ein dynamisches Finale. Überflüssig ist dagegen der bei emotionalen Szenen mehrfach eingesetzte rasche Zoom in die Nahaufnahme; auch die Zeitlupeneffekte wirken aufgesetzt. Umso besser ist Seumes Arbeit mit den Schauspielern. Eine besondere Rolle spielt dabei naturgemäß das viel präsente kleine Mädchen, das seine Sache sehr gut macht, selbst wenn es nur einen einzigen Dialogsatz hat. Eine ausgezeichnete Ergänzung der Bilder ist die sparsam instrumentierte Musik von Martin Tingvall, zumal sie dem Film gemeinsam mit Kostüm und Ausstattung, die beide auf bunte Farben verzichten, eine spezielle spätwinterlich triste Atmosphäre verleiht.