Der Arbeitstag von Kim-Lea Glaub beginnt um 7.45 Uhr. Heute packt die 18-Jährige Fahrradgriffe in Plastiktüten, an anderen Tagen sortiert sie Schrauben oder drückt Folien in die Deckel von Cremedosen. Kim-Lea arbeitet im Berufsbildungsbereich der Herforder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. In der Einrichtung der Lebenshilfe lernt die junge Frau mit Down-Syndrom verschiedene Montage- und Verpackungsarbeiten kennen und macht Praktika.
Nun im zweiten Bildungsjahr bekommt sie dafür 80 Euro im Monat. "Das ist ein Taschengeld, mehr nicht", sagt ihre Mutter Karin Glaub, die Grundsicherung für ihre Tochter beantragt hat. Doch ihr Antrag wurde abgelehnt. Dagegen klagt die Familie vor dem Sozialgericht Detmold (AZ: S 2 SO 15/18). "Uns geht es um Gerechtigkeit", sagt Glaub. Schließlich stehe Menschen ab 18 Jahren eine finanzielle Unterstützung zu, wenn sie dauerhaft voll erwerbsgemindert sind.
Grundrecht auf Gleichbehandlung missachtet?
Geprüft wird dies in der Regel durch den Rentenversicherungsträger. Streitpunkt ist eine Neufassung des Paragrafen 45 im Sozialgesetzbuch XII, die seit Juli 2017 gilt. Das Bundessozialministerium versteht die Vorschrift so, dass erst nach Ende des Berufsbildungsbereichs festgestellt werden kann, ob ein Mensch dauerhaft voll erwerbsgemindert ist oder nicht. Davor gibt es keine Grundsicherung.
Praktisch heißt das, dass Betroffene wie Kim-Lea jeden Monat auf den Regelsatz von 416 Euro verzichten müssen, Mehrbedarfe sowie Kosten für Miete und Heizung nicht eingerechnet. Karin Glaub findet das ungerecht. "Kim-Lea braucht ständig Unterstützung", sagt sie. "Gesundheits- und Arbeitsamt haben die Erwerbsminderung bestätigt." Es sei nur recht und billig, dass auch junge Erwachsene im Bildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen - also praktisch in der Ausbildungszeit - eine elternunabhängige Unterstützung bekommen.
Die Lebenshilfe unterstützt Familie Glaub, die in der Auslegung der neuen Vorschrift das Grundrecht auf Gleichbehandlung missachtet sieht. "Wir sehen in der Weigerung, die Grundsicherung auszuzahlen, eine pure Leistungskürzung, die nicht hinnehmbar ist", kritisiert die Bundesvorsitzende Ulla Schmidt. Erfahrungsgemäß schaffe es höchstens ein Prozent der Werkstattbeschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Bei Beschäftigten im Berufsbildungsbereich einer Behinderten-Werkstatt sei von einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung auszugehen, deshalb erübrige sich die Prüfung durch den Rentenversicherungsträger, argumentiert auch Kim-Leas Mutter.
Das Bundesministerium verweist dagegen darauf, dass es auch vor der Gesetzesänderung keinen Anspruch auf Grundsicherung im Berufsbildungsbereich einer Behinderten-Werkstatt gegeben habe. Menschen mit Behinderung sollten in dieser Zeit herausfinden, ob sie den Wechsel in den allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen können. Das Ergebnis solle nicht vorweggenommen werden. Ansonsten würde man ihnen bereits vor Abschluss der Maßnahmen signalisieren, dass diese erfolglos sein würden, erklärt ein Sprecher. Ausnahmen gebe es, wenn eine volle Erwerbsminderung bereits vor Beginn des Bildungsbereichs festgestellt wurde.
Karin Glaub empfindet das als willkürlich. Ihre Tochter war 17 Jahre alt, als sie bei den Herforder Werkstätten anfing. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch keinen Antrag auf Grundsicherung stellen, weil sie noch nicht volljährig war.
Urteile aus anderen Städten machen Familie Glaub Mut weiterzukämpfen. So entschied etwa das Sozialgericht Augsburg, dass es gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung verstoße, wenn keine Grundsicherung bei Erwerbsminderung bewilligt wird (AZ: S 8 SO 143/17). Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, es wurde Berufung eingelegt.