Wo der Eurovision Song Contest zwischen Glitzer und Armut gefeiert wird

Nora Steen
Foto: epd-bild/Jens Schulze
Nora Steen, Pfarrerin der Deutschen Evangelischen Kirchengemeinde Lissabon, ermutigt, das Licht unsres Glaubens leuchten zu lassen, egal in welchem politischen System wir leben.
Wo der Eurovision Song Contest zwischen Glitzer und Armut gefeiert wird
In Lissabon wird der Eurovision Song Contest fröhlich gefeiert. Und Nora Steen ist die Pfarrerin der Deutschen Evangelischen Kirchengemeinde Lissabon (DEKL). Portugal wie auch ihre Gemeinde stehen jedoch vor gewaltigen Herausforderungen: viele Menschen im Land sind arm.

Nora Steen erinnert sich genau. Vor knapp einem Jahr war es, als sie zu zehnt auf einen kleinen Handy-Bildschirm geschaut haben. Es gab keinen ordentlichen Fernsehempfang und sie waren zu einem Gemeinde-Wochenende unterwegs, das heißt hier Retiro. Denn Nora Steen ist die Pfarrerin der Deutschen Evangelischen Kirchengemeinde Lissabon (DEKL). Und deshalb hatten sie damals erst etwas zu gucken und anschließend sogar noch was zu feiern. Schließlich gewann Salvador Sobral mit dem 49. portugiesischen Beitrag "Amar pelos dois" zum ersten Mal den Eurovision Song Contest für das kleine Land am Rand Europas: "Das war super, wir haben uns alle unglaublich gefreut!"

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Am Sonntag "Kantate" begannen jetzt in Lissabon die zweiwöchigen Proben für den 63. ESC, der wie üblich im Siegerland des Vorjahres stattfindet. Über dem vierten Sonntag nach Ostern steht aus dem 98. Psalm "Cantate Domino canticum novum", also auf Deutsch: "Singt dem Herrn ein neues Lied." Aber im deutschen evangelischen Gottesdienst an diesem Morgen ging Nora Steen gar nicht auf die Eurovision ein, dabei hatte sie 2012 das Wort zum Gottesdienst für den ESC in Baku gesprochen. Deutlich hatte die damalige Hildesheimer Pfarrerin auch nach einem Gespräch mit dem Menschenrechts-Aktivisten Rasul Jafarow vor Ort die fehlende Freiheit im Ausrichter-Land Aserbaidschan thematisiert und ihre Zuschauer-Gemeinde dazu ermutigt, das Licht unsres Glaubens leuchten zu lassen, egal in welchem politischen System wir leben. Und genau das macht sie heute auch, ungefähr auf dem Breitengrad von Baku, nur fast 5000 Kilometer weiter westlich.

Die Probleme hier sind ganz andere, aber Schwierigkeiten gibt es auch. Seit drei Jahren teilen sich Nora Steen und Leif Mennrich die Lissabonner Pfarrstelle. Als das Ehepaar 2015 kam, hatte Portugal schon schwere Jahre der Eurokrise hinter sich: Das Wirtschaftswachstum des Landes war 2012 um vier Prozent gesunken, die Arbeitslosenquote hatte im Januar 2013 17,5 Prozent betragen. Statistische Zahlen, die im Alltag vieler Menschen ihren wirklichen Schrecken entfalteten. Den Wirtschaftsproblemen wurde mit einem strikten Spar- und Reformkurs begegnet, der das Leben für den Augenblick zusätzlich schwerer machte - mit dem Versprechen für eine bessere Zukunft. Und tatsächlich: Das Wirtschaftswachstum betrug 2016 nach einem noch etwas besseren Vorjahr wieder 1,4 Prozent, die Arbeitslosenquote sank in Dezember 2017 auf 7,8 Prozent. Das Land scheint auf dem richtigen Weg, aber dennoch ist definitiv nicht alles gut.

Nora Steen nimmt auch weiterhin die Verwerfungen wahr, die die vergangenen Jahre der Austeritätspolitik mit sich gebracht haben. Auch wenn sich die Portugiesen nach ihrem Eindruck "sehr tapfer" mit ihrer Lebenssituation ohne große Proteste bis zur Schmerzgrenze arrangiert hätten, so fehle ihr selbst beim Blick auf die finanziellen Realitäten im Land doch eine Antwort: "Ich frag' mich, wie es für große Bevölkerungsteile möglich ist, hier zu leben." Die Mieten seien hoch, Gas, Wasser, Lebensmittel im Vergleich zu Deutschland teuer. Für Nora Steen bietet allein der generell starke Familienzusammenhalt in Portugal einen Erklärungsansatz. Aber es gibt Not - und da möchte die Kirchengemeinde helfen. Natürlich beteiligt man sich an der alljährlichen Benefiz-Aktion "Serve the City", bei der es auch in Lissabon ein kostenloses Abendessen für Obdachlose gibt.

Dieses Detail ist lediglich eine kleine Facette in dem großen sozialen Engagement, das die DEKL auf ihrer Homepage www.dekl.org aufzeigt und in einen historischen Kontext setzt, denn schon in ihren Gründungszeiten war diakonisches Handeln ein Grundanliegen. "Was ist mein Auftrag hier" und "Sich als Kirchengemeinde nicht selbst genug sein", diese Sätze fallen, wenn Nora Steen über die Arbeit der DEKL nachdenkt. Und die Dinge ändern sich. Waren es anfangs - bereits 1761 wurde die Gemeinde aus der Taufe gehoben - deutsche Seeleute, die in Lissabon strandeten und Hilfe brauchten, seien es heute zum Beispiel Menschen, die in Deutschland aufgrund ihrer Muttersprach-Kompetenzen für Callcenter in Lissabon angeworben würden und hier mit ihren Hungerlöhnen das Leben nicht finanzieren könnten. Eine Auswirkung der mit spitzem Bleistift gerechneten Durch-Ökonomisierung unser aller Leben, die auf Teufel-komm-raus Kosten senkt. In der die großen Konzerne immer eine wichtige Rolle spielen. Auch Nora Steen wundert sich, wenn sie hier im Aldi in Lissabon in Deutschland abgepackte Milch kaufen kann.

Die DEKL muss außerdem bei all ihren sozialen Aktivitäten auch für die eigene, 1934 gebaute Kirche, die mit dem Pfarr- und Gemeindehaus einen Steinwurf von der Praça de Espanha entfernt liegt, sorgen. 150.000 Euro müssten dafür, so die Pfarrerin, alljährlich aufgebracht werden, bei nur 160 zahlenden Gemeindegliedern kein leichtes Unterfangen. Und dann ist da natürlich das übliche Gemeindeleben: Jeden Sonntag Gottesdienst um 11 Uhr, ein sehr aktiver Gemeindechor, Kasualien wie Trauungen und Hochzeiten finden inzwischen oft zweisprachig auf Deutsch und Portugiesisch statt, von den elf Jugendlichen im Konfirmandenunterricht sind in diesem Jahr fünf konfirmiert worden. Sie kommen üblicherweise einmal im Monat samstagnachmittags um 16 Uhr zum Unterricht in der Gemeinde und bleiben bis zum Gottesdienst am nächsten Morgen, erlebten dabei Leben im Pfarrhaus mit zwei Kindern, Hund und Katze mit, so Nora Steen. Das mache Dinge einfacher, manche der Konfirmanden hätten schon eine dreiviertelstündige Anfahrt zur Kirche.

„Alle an Bord“ ist diesmal das Leitmotiv für den Eurovision Song Contest. Vergangenes Jahr wurden in der Deutschen Evangelischen Kirchengemeinde Lissabon Fliesen gemalt, auch in der Bibel finden sich maritime Szenen.

Im vergangenen Jahr spielte in der Gemeinde das Reformation-Jubiläum eine wichtige Rolle, auch aus dem Umfeld habe es viele Anfragen nach dem Motto "Was ist eigentlich protestantisch?" gegeben. Dabei macht Nora Steen nochmal klar, Portugal sei in seinem Alltag überhaupt nicht so dezidiert römisch-katholisch wie etwa Spanien, im Gegenteil. Auch wegen der Nähe von katholischer Kirche und dem autoritären Diktator Salazar bestehe heute in Portugal der Wunsch nach einer deutlichen Trennung von Kirche und Staat. "Para quê a religião?" - auf Deutsch: Wozu Religion? - war denn auch im Oktober 2017 ein dreitägiger Kongress überschrieben, den die DEKL gemeinsam mit der Katholischen Universität Braga, Lissabon, Porto und dem Goethe-Institut ausrichtete und zu dem der in Damaskus geborene deutsche Politikwissenschaftler Bassam Tibi als Hauptredner eingeladen war. Am Reformationstag 2017 fand ein großer Festgottesdienst zum 500. Jahrestag des Wittenberger Thesenanschlags mit ökumenischer Beteiligung statt, bei dem das deutsche evangelische Gotteshaus einen Namen bekam. Seitdem heißt es Martin-Luther-Kirche, auch um in der evangelischen Unübersichtlichkeit die Vorstellungen in dieser Gemeinde eine klare Hausnummer zu geben. An der Mauer um die Kirche hängt seit vergangenem Jahr eine typisch portugiesische Fliesenwand mit Kacheln, die bei der Weltausstellung  Reformation in Wittenberg, in der Deutschen Schule in Lissabon und in der Gemeinde entstanden waren. Auch beim Retiro vor einem Jahr.

Am kommenden Wochenende ist wieder ein Retiro. 18 Erwachsene, acht Jugendliche und sechs Kinder sind diesmal dabei. Auf der anderen Seite vom Tejo lautet das Thema in diesem Jahr: Globale Gerechtigkeit. Man werde konkret aus diesem Blickwinkel in der Bibel lesen und sich unter anderem in einem Planspiel Gedanken machen, wie man als Kirchengemeinde auf diese globale Gerechtigkeit besser und nachhaltiger achten könne. Und Samstagabend werde man den ESC gucken. Diesmal gibt es auch einen Fernseher.