Tatsächlich ist das von Regisseurin Christine Hartmann bearbeitete Drehbuch von "Soko Köln"-Autor Christoph Wortberg sogar recht clever, weil die Dinge nie so sind, wie sie scheinen. Deshalb beginnt die Handlung auch mit einem Kollateralschaden: Ein junger Mann kehrt von seinem Junggesellenabschied heim, entdeckt in einem Mülleimer eine Tasche mit viel Geld und wird vorsätzlich überfahren. Auf diese Weise stoßen Ballauf und Schenk auf den eigentlichen Fall: Eine junge Frau ist entführt worden, die halbe Million war das Lösegeld. Kurz drauf bekommen die Eltern grausige Post. Rechtsmediziner Roth (Joe Bausch) stellt jedoch fest, dass der Finger, den das Päckchen enthält, zwar von Charlotte stammt, doch als er abgeschnitten wurde, war sie bereits tot.
Die Vielzahl von TV-Krimis führt zwangsläufig immer wieder zu Koinzidenzen: Wie schon im diesjährigen Oster-"Tatort" ("Zeit der Frösche") verschweigt die Polizei den Eltern des Opfers, dass ihre Tochter nicht mehr lebt, um bei der erneuten Lösegeldübergabe den Täter zu schnappen; und das ist nicht die einzige Parallele zwischen den beiden Geschichten. Das irgendwas nicht stimmt, lässt sich allerdings auch dann erahnen, wenn man den Film mit Heike Makatsch nicht gesehen hat. Ähnlich wie in "Bausünden", dem im Januar ausgestrahlten vorletzten "Tatort" aus Köln, wird die Lösung des Falls zudem in einem der ersten Bilder angedeutet, als der Bruder des Opfers einsam auf einem Spielplatzkarussell sitzt; aber das erschließt sich erst im Nachhinein. Natürlich soll die Spannung des Films auch aus der Aufklärung resultieren, doch Hartmann (zuletzt "Ein Schnupfen hätte auch gereicht"), die beispielsweise mit der "Stralsund"-Episode "Es ist nie vorbei" (2015) einen fesselnden Thriller inszeniert hat, konzentriert sich in ihrem ersten Kölner "Tatort" viel stärker auf das Mit- und Gegeneinander der Figuren. Selbst kleinere Nebenrollen sind nicht bloß Mittel zum Zweck; deshalb liegt die eigentliche Qualität des Films auch in der Arbeit mit den Schauspielern sowie dem Blick fürs Detail. Ein schönes Beispiel ist die Szene, in der die Verlobte des toten jungen Mannes Abschied nimmt und ihm den Hochzeitsring über den Finger streift; die Anschlussszene beginnt mit einer Aufnahme ihrer Hand, an der nun ebenfalls ein Ring zu sehen ist. Mehr als sorgfältig ist auch die Bildgestaltung. Eine Aufnahme Charlottes im Gegenlicht eines verdeckten Fensters ist das schönste Bild des Films (Kamera: Peter Nix), und schon allein die ästhetische Komposition dieser Einstellung nimmt zumindest einen Teil des weiteren Verlaufs vorweg. Zumindest ein Teil der Handlung spiegelt sich im Miteinander der beiden Kommissare, wenn auch nicht wie zuletzt ("Mitgehangen") in Form eines internen Konflikts, sondern in kollegialer Freundschaft: Schenk hat den Hochzeitstag vergessen und entsprechenden Ärger daheim; mehrere Ideen zur Wiedergutmachung gehen schief, bis schließlich Frauenversteher Ballauf die richtige Lösung findet. Ein zweites durchgängig amüsantes Element sind erneut die kleinen Scharmützel zwischen Schenk und dem ständig essenden gemütlichen Assistenten Jütte (Roland Riebeling), der auch diesmal wieder über jede Aufgabe stöhnt, den beiden Kommissaren aber wertvolle Dienste leistet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Diese Geplänkel dienen natürlich nur der Auflockerung, sind aber stimmiger als das zentrale Thema, weil die beiden titelgebenden Familien gewollt verkorkst wirken. Gerade bei den Ritters, den Eltern des entführten Mädchens, will das Drehbuch um jeden Preis eine Diskrepanz zwischen Schein und Sein konstruieren; gemessen daran verkörpern Harald Schrott und Nicole Marischka das Ehepaar sehr glaubwürdig. Die Fröhlichs wirken dagegen allzu sehr wie typische TV-Figuren. Sohn Kasper (Anton von Lucke) ist Charlottes Freund, irgendwie seltsam und zudem nicht sonderlich sympathisch. Seine Mutter (Claudia Geisler-Bading) ist allerdings noch extremer. Die Witwe ertränkt ihren Kummer in Alkohol, nimmt die Nachricht von der Entführung völlig emotionslos zur Kenntnis und benimmt sich auch sonst recht seltsam. Die Verstrickung der beiden Familien geht weit über die Freundschaft zwischen Kasper und Charlotte hinaus, und die Rolle, die der Großvater des Opfers, ein renommierter Wirtschaftsanwalt (Hansjürgen Hürrig), dabei spielt, ist mehr als unrühmlich. Über allem schwebt jedoch ein zwanzig Jahre lang gehütetes Familiengeheimnis, dessen zufällige Offenbarung zur Folge hat, dass zum bestürzenden Ende lauter Leben zerstört sind. Die gute Musik von Fabian Römer macht ohnehin von Anfang an deutlich, dass sich die Geschichte zur Tragödie entwickeln wird. Der Komponist krönt auch die eigentümlichste Szene des Films, als Kasper und seine Mutter einen Pas de deux zweier Verzweifelter tanzen. Dass "Familien" trotzdem nur ein solider Krimi und kein herausragender "Tatort" geworden ist, liegt nicht zuletzt an den vielen schematischen Vernehmungen mit ihren handelsüblichen Dialogen ("Wir stellen die Fragen"). Viel schöner und vor allem berührender sind die Augenblicke, in denen Ballauf und Schenk nicht als Ermittler, sondern als Seelsorger gefragt sind.