In einem Brandbrief an den hindunationalistischen Premierminister Narendra Modi wirft der Dachverband der protestantischen Kirchen Indiens, der "National Council of Churches in India" (NCCI), der Regierung nicht nur Versagen beim Schutz von Frauen und Mädchen vor Vergewaltigungen und anderen Formen der sexuellen Gewalt vor. Der NCCI erhebt vielmehr den schweren Vorwurf der stillschweigenden Komplizenschaft. "Die Körper der Frauen und Mädchen in unserem Land sind Schlachtfelder geworden, auf denen Kriege des Hasses, der religiösen und kommunalen Intoleranz ausgetragen werden. Vergewaltigungen werden als Instrument zur Ausübung von Terror benutzt. (…) Die Politisierung der Religion führt zu einer weiteren Feminisierung der Gewalt", heißt es in dem vom NCCI-Vorsitzenden Dr. P. C. Singh sowie von Moumita Biswas im Namen des Frauenverbands des NCCI unterzeichneten Brief. 2016 laut wurden nach Angaben der indischen Polizei 38 947 Vergewaltigungsfälle anzeigt. Davon waren 6 091 Opfer zwischen zwölf und sechzehn Jahren, 1 596 zwischen sechs und zwölf, und 570 jünger als sechs.
Premierminister Modi gerät zunehmend ins Zentrum der Kritik an der sexuellen Gewalt gegen Frauen. Bei seinem Amtsantritt 2014 hatte Modi die "Sicherheit der Töchter Indiens" versprochen. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Zahl der Vergewaltigungen ist sprunghaft angestiegen. Zu den Vergewaltigungen der achtjährigen Asifah Bano und der 17 Jahre alten Frau - und zur Verwicklung seiner hinduextremistischen Parteigänger in beide Fälle - hat Modi lange geschwiegen. Erst als die Proteste die Hauptstadt Neu Delhi erreichten, verfügte Modi hastig die Todesstrafe für die Vergewaltiger von kleinen Mädchen. Den beiden Vergewaltigungen in Jammu und Kaschmir sowie in Uttar Pradesch gemeinsam sind zwei Aspekte: Sie liegen erstens schon eine Weile zurück und kamen zweitens erst jetzt durch die Verwicklung von Modis hindunationalistischer Regierungspartei BJP ins öffentliche Bewusstsein. Sexuelle Gewalt wird zunehmend als Strategie radikaler Hindus zur Unterdrückung von Minderheitsreligionen wahrgenommen.
Im Januar diesen Jahres wurde in Kathua im Bundesstaat Jammu und Kaschmir das acht Jahre alte muslimische Mädchen Asifah von dem muslimischen Nomadenvolk der Gujjar von mehreren Männern entführt, in einem Hindutempel gefangen gehalten, mehrfach vergewaltigt, umgebracht und dann weggeworfen wie ein Stück Dreck. Die Vergewaltigung von Asifah heizt die religiösen Spannungen in Jammu und Kaschmir an. Die zwischen der Volksrepublik China und Pakistan gelegene Region ist seit der Teilung Indiens 1947 in das mehrheitlich hinduistische Indien und das mehrheitlich islamische Pakistan das einzige indische Bundesland mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit. In der Stadt Kathua sind allerdings die Hindus in der Mehrheit. Pakistan und so manche Muslime in Jammu und Kaschmir fordern, zum Teil gewaltsam, den Anschluss von Jammu und Kaschmir an Pakistan. 1989 wurden durch einen muslimischen Aufstand gegen die indische Herrschaft in Jammu und Kaschmir Hunderttausende Hindus vertrieben.
"Sie wollen uns vertreiben"
Vor wenigen Wochen wurden acht hinduistische Männer – darunter vier Polizisten - als Vergewaltiger und Mörder von Asifah verhaftet. Das löste eine unheilvolle politische Spirale aus, durch die Indien, wo in diesem Jahr noch in einigen Bundesstaaten und 2019 im Bund ein neues Parlament gewählt wird, weiter polarisiert wird. Hinduistische Anwälte und zwei BJP-Minister der Regierung von Jammu und Kaschmir forderten bei Demonstrationen die Freilassung der hinduistischen Vergewaltiger des muslimischen Mädchens. Für die radikalen Hindus ist die Festnahme der acht Hindus nichts anderes als ein Komplott. Die Bürger- und Fauenrechtler, die seit Monaten Gerechtigkeit für Asifah forderten, so die Extremisten, hätten soviel Wirbel veranstaltet, dass jetzt willkürlich Hindus verhaftet worden seien. Die Muslime ihrerseits werfen den Hindus eine Verschwörung gegen sie vor. "Sie wollen die Gujjar terrorisieren. Das sagt auch der Chef der Polizei", betont der Bürgerrechtler und Studentenführer Haq Nawaz aus Jammu im WhatsApp-Interview mit evangelisch.de. "Sie wollen uns vertreiben", befürchtet er, selbst ein Gujjar.
Bereits im vergangenen Jahr wurde im Bundesstaat Uttar Pradesch (UP) eine heute 17-jährige Frau vergewaltigt. Der mutmaßliche Täter: der BJP-Landtagsabgeordnete Kuldeep Singh Sengar. Also ein mächtiger Mann. Und mächtige Männer stehen in Indien meist über dem Gesetz. Verzweifelt darüber, dass die Polizei in ihrem Fall nichts unternahm, übergoss sich die Frau vor wenigen Wochen vor dem Haus des Regierungschefs von Uttar Pradesch, Yogi Adityanath, einem ehemaligen Hindupriester, mit Benzin und zündete sich an. Sie konnte gerettet und mit schwersten Verbrennungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Sympathisanten der Frau gingen auf die Straße, forderten Gerechtigkeit. Darunter war der Vater der Frau. Der wurde von der Polizei festgenommen und starb kurz darauf laut indischen Medien an den Folgen von Misshandlungen durch die Polizei. Sechs Polizisten und vier vermutlich von Sengar angeheuerte Schläger wurden verhaftet.
Die BJP regiert seit 2014 Indien und inzwischen auch 18 der 29 Bundesstaaten. Sie ist der politische Arm der extremistischen Hinduorganisationen, die aus Indien einen hinduistischen Gottesstaat machen wollen. Im Visier der Hass- und Gewaltkampagnen der Hinduextremisten stehen in erster Linie die muslimische Minderheit des Landes, aber auch Christen sind vor Gewalt, Diskriminierung, massenhaften Zwangskonvertierungen von Mädchen zum Hinduismus und eben sexueller Gewalt nicht sicher. Die Zahl der gemeldeten Übergriffe auf Christen hat sich 2017 nach Angaben der ökumenischen Organisation "Persecution Relief" auf 736 Fälle verdoppelt. Die Zunahme der christenfeindlichen Taten sei auf die Verunglimpfung von Christen als "Feinde des Staates" durch die Hindunationalisten zurückzuführen.
Im ganzen Land rufen Menschen aller Religionen unter Hashtags wie #justiceforAsifa oder #Kathua zu Demonstrationen und Mahnwachen gegen Vergewaltigungen und die Untätigkeit der Regierung Modi auf. "Genug ist genug", sagt Abha Bhaiya via Skype aus Dharamsala gegenüber evangelisch.de. Abha ist eine prominente Feministin und Gründerin der von "Brot für die Welt" geförderten Frauenrechtsorganisation "Jagori Rural". In Dharamsala hatte Abha eine Demonstration gegen sexuelle Gewalt organisiert. "Es haben hauptsächlich junge Leute teilgenommen. Die Jugend ist wichtig, wenn wir hier was verändern wollen", betont die aus einer hinduistischen Familie stammende, sich aber als Agnostikerin verstehende Abha. Verändert werden muss in Indien vor allem die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Frauen. "Indien ist eine patriarchalische Gesellschaft. Das sind so manche andere Gesellschaften auch. Aber bei uns kommt erschwerend das Kastensystem hinzu", klagt Abha. Von der Ad-Hoc-Einführung der Todesstrafe für Vergewaltiger von Mädchen durch Premierminister Modi hält Abha nichts. "Das ist jetzt vor den Wahlen Augenwischerei zur Ablenkung der Öffentlichkeit von der Verwicklung der BJP in die Vergewaltigungsfälle."
"Nicht alle Hindus sind Anhänger der Extremisten"
Für Talib Hussain, Rechtsanwalt und Gujjar, haben die hinduistisch-muslimischen Beziehungen durch die Vergewaltigung von Asifah ihren tiefsten Punkt seit der Teilung Indiens vor über 70 Jahren erreicht. Haq Nazar sieht die Lage nicht ganz so pessimistisch. "Nicht alle Hindus sind Anhänger der Extremisten. Überall in Indien gehen jetzt säkulare Hindus auf die Straße und fordern Gerechtigkeit für Asifah."