Roman und Ruben sitzen am Computer und lösen ein Quiz. Ariane und Theresa machen Geografie. Über einen Ordner gebeugt, erledigen sie Aufgaben zum "Norddeutschen Tiefland". Auch Jake und Joel sind in Partnerarbeit vertieft. Derweil schlendern zwei Schüler zur Tafel und vergleichen die dort hingepinnte Mathelösung mit ihrem Ergebnis. "Die da drüben machen nur Mist", beschwert sich ein Mädchen. Freitagmorgen in den fünften Klassen am Evangelischen Schulzentrum Muldental im Grimmaer Ortsteil Großbardau in Sachsen: Es ist Freiarbeit.
Drei Fächer gleichzeitig werden in diesen zwei Stunden unterrichtet: Geografie, Mathe und Deutsch. Wer wann was macht, entscheiden die Schüler selbst. "Wenn mal jemand keine Lust auf Mathe hat, ist das auch ok", sagt Lehrerin Antje Nothnagel. "Sie sollten es dann nur in der kommenden Woche nachholen." Frau Nothnagel, Kurzhaarschnitt, dunkel umrandete Brille, freundliches Lächeln, gibt Mathe und ist schon ziemlich lange an der Schule. Wer will, sagt Antje zu ihr.
Während der Freiarbeit kann sich jeder Schüler aussuchen, wer mit wem zusammenarbeitet und ob er oder sie sich Rat bei anderen holen will. Auch lernen die Fünftklässler der beiden weiterführenden Schulformen, also Oberschule und Gymnasium, gemeinsam - mit- und voneinander. Auf zwei Räume verteilen sich die Jungen und Mädchen, der Durchgang ist offen. Mindestens zwei Lehrer sind immer dabei. Die Atmosphäre: entspannt. Locker, aber konzentriert.
Was auf den ersten Blick wirkt wie ein großes Durcheinander, ist in Wahrheit strikt organisiert. Jeder Schüler, jede Schülerin hat einen Ordner vor sich, gegliedert nach den drei Fächern. Darin sind Arbeitsaufträge aufgelistet, die während der dreimal zwei Stunden Freiarbeit pro Woche erledigt werden müssen. Am Rand jeder Spalte notieren die Schüler nach den Aufträgen, wie sie mit dem Stoff zurechtgekommen sind. Darunter stehen zwei Termine zur Auswahl. Aus ihnen wählen die Schüler selbstständig aus, wann sie die nächste Klassenarbeit schreiben wollen.
Das Ganze ist ein Experiment, erläutert Jana Mäding, eine der Schulleiterinnen, zuständig vor allem für die Oberschulen. Ein Experiment - und eine der großen Besonderheiten am Evangelischen Schulzentrum Muldental. "Wir sind in einer Projektphase", sagt Mäding. Nach einigen Jahren Pause experimentiert die Schule erst seit diesem Schuljahr wieder mit der Freiarbeit, zunächst in Jahrgangsstufe fünf. Peu à peu soll es mehr werden, bis zur achten Klasse hinauf. Dann wird wieder getrennt, weil für die Hauptschüler die ersten Prüfungen anstehen. "Da müssen die im letzten Jahr darauf vorbereitet werden. Und das geht besser im Klassenverband", erklärt Mäding.
Denkbar ist auch, dass noch mehr Fächer in die Freiarbeit integriert werden, die bislang noch konventionell im Klassenverbund unterrichtet werden. Entscheidend dafür ist, ob sich geeignete Lehrer finden - und Material. Denn davon ist für diese Form des Unterrichts eine ganze Menge nötig.
Die Ziele des freien Lernens sind klar: Neben der Vermittlung des Stoffs lernen die Kinder von Anfang an, sich selbst zu organisieren, selbstständig zu arbeiten und Verantwortung für das eigene Fortkommen zu übernehmen. Und für andere Schüler, die vielleicht nicht so schnell mitkommen.
Mäding, das merkt man im Gespräch, hätte es am liebsten noch freier; so wie an der angeschlossenen Grundschule zum Beispiel, aus der sich über die letzten 20 Jahre auch die weiterführenden Schulen entwickelt haben. An der Grundschule gibt es keine Noten. "Hier", sagt Mäding, "müssen wir uns leider an die gesetzlichen Vorgaben für weiterführende Schulen halten, ganz normal Klassenarbeiten schreiben und in Hauptfächern fünf Noten pro Halbjahr machen."
Dabei ist die Schulleiterin überzeugt, dass "der Eigenantrieb der Schüler verloren geht, sobald es um Noten geht." Die Schüler machten dann nichts mehr von alleine, so Mäding. Das merke man sehr deutlich, wenn Schüler zu ihnen auf die Oberschule oder aufs Gymnasium kämen, die vorher keine freie Grundschule besucht hätten. Dabei gebe es Studien, sagt Mäding, nach denen Schüler, die erst ab der neunten Klasse benotet werden, in Prüfungen genauso gut abschnitten wie Schüler an Schulen mit konventionellem System. Am Ende aber seien die, die erst später benotet werden, "selbstständiger und können sich Dinge besser erarbeiten", betont Mäding.
Dass es im Muldental dennoch Noten gibt, ist der staatlichen Anerkennung geschuldet, die seit diesem Jahr als letzte der drei Schulformen auch das Gymnasium bekommen hat. Der Trägerverein, eine Elterninitiative, wollte es so.
Zwei Stockwerke höher stehen die Schüler der zehnten und elften Klasse des Gymnasiums im Kreis und lauschen Charlotte und Hanna. Die beiden Studentinnen machen heute mit den Schülern vier Stunden lang ein Projekt zur EU. Gerade geht es darum, wie die Schüler sich die Zukunft der Union vorstellen. Treten Länder bei, die Türkei, Serbien, Montenegro? Treten weitere aus, nach dem Vorbild Großbritanniens? Bleibt alles, wie es ist? Oder ist auf absehbare Zeit gar ein Krieg denkbar, auf dem Boden der EU?
Reihum positionieren sich die Schüler, referieren, streiten, argumentieren. Die Studentinnen stellen Fragen, lenken und erklären. "Krass, was die alles wissen", sagt Charlotte in einer Pause. Auch haben die beiden im Vergleich zu einigen anderen Schulen, an denen sie schon mit dem gleichen Projekt waren, den Eindruck, dass die Schüler hier offener und diskussionsfreudiger sind.
Das mag Zufall sein. Es mag dem Thema Europa geschuldet sein, an dem dieser Tage kaum ein Vorbeikommen ist. Oder es ist so, dass sich hier ein erster Effekt der Erziehung zu mehr Selbständigkeit zeigt, ein Effekt der Übung im mündigen, kritischen Denken.
Neben Projekten wie dem zur EU, die regelmäßig an der Schule stattfinden, übt sich immer donnerstags die gesamte Schule in Freiarbeit. Dann stehen auf mehrere Wochen angelegte, Jahrgangsstufen- und Schulform-übergreifende Projekte an, zum Beispiel in Religion. Hier bereiten die Schüler eigenständig die fünf Andachten des Schuljahres vor: zu Erntedank, Weihnachten und Ostern, zum Halbjahr und zum Schuljahresabschluss. Auch jede neue Woche beginnt mit einer Andacht. Freiarbeitsprojekte gibt es außerdem in den Fächern Deutsch, Geschichte, Theater und Lebenspraxis.
Unten, in den Fünften, ziehen sie derweil Wochenbilanz. Reihum tritt jeder einzeln bei Antje Nothnagel an und checkt gemeinsam mit der Lehrerin, wie die Woche lief: Wo ging es gut vorwärts, wo hakt es vielleicht noch? "Hast Du das auch verstanden", fragt die Pädagogin, oder: "Fühlst Du Dich gut vorbereitet?". Fortkommen und Stand der Dinge werden im persönlichen Lerntagebuch der Kinder vermerkt. Zu Beginn der nächsten Woche gibt es neue Ziele.
Die übrigen Schüler finden sich inzwischen in einer Ecke des Raumes zum Plenum zusammen, so wie jeden Freitag. Auch hier wird Bilanz gezogen, jede Woche übernimmt ein anderes Kind die Leitung. "Habt ihr Fragen oder Wünsche?", werden die anderen gefragt. "Wie war die Woche für Euch?" "Gut", antwortet eine Schülerin. "Ich habe alles geschafft, was ich mir vorgenommen habe."