"Stellt euch mal vor, ihr schaut eine Minute den Film "Findet Nemo" und redet danach eine halbe Stunde über das, was ihr in dieser einen Minute gesehen und gehört habt." Benjamin Braun schaut seine 6. Klässler erwartungsvoll an. Ein Schüler aus den hinteren Reihen murmelt leise, dass das ein komischer Filmabend wäre. "Stimmt. Aber genauso machen wir es mit der Bibel. Die ist nämlich nicht die längste Schulordnung der Welt, sondern ein Buch voller lehrreicher Geschichten."
Zehn Minuten erzählt Braun den Kindern etwas über die Entstehung der Bibel, danach möchte er wissen, für wen an diesem Morgen gebetet werden soll – die Arme der Kinder schnellen in die Höhe. Die vier kranken Klassenkameraden werden genauso ins Gebet miteingeschlossen wie die Geschwister, die die Zulassung zu einer weiterführenden Schule bekommen haben oder die demnächst eine Reise machen. "Es ist wichtig, dass man den Glauben und die Frömmigkeit der Kinder Erich nimmt", sagt Braun.
Die Kinder mögen diese allmorgendlichen Andachten, die in allen Klassen stattfinden. Für den elfjährigen Peter bedeutet es viel, mit der Bibel den Tag zu beginnen. "Meine Lieblingsgeschichte ist die über die Auferstehung Jesu, weil sie mir so viel Kraft und Hoffnung gibt", erzählt er Erich. Im vergangenen Jahr hat er erfolgreich an der Bibelchallenge teilgenommen und zusammen mit seinem Vater das Neue Testament gelesen. Der zweistündige, lebensnahe Religionsunterricht mache ihm sehr viel Spaß, weil er sich da auskenne und dabei lernen, Gott und seinen Nächsten nicht aus dem Auge zu verlieren.
Für die 7. Klässlerin Salome bieten die Andachten und der Religionsunterricht eine Gelegenheit, neues von Gott zu lernen. "Ich finde es toll, dass sich die Schule für Gott interessiert", sagt sie. Das Motto der Schule "Leben lernen, Gott vertrauen" sei nicht nur zur Zierde auf die Wände geschrieben, sondern werde im Alltag wirklich gelebt.
In der August-Hermann-Francke Hauptschule in Detmold sind einige Dinge anders als in anderen Schulen. "Hauptschüler brauchen einen kleinen Rahmen und feste Strukturen, um erfolgreich zu lernen und das geben wir ihnen hier", erklärt Schulleiter Erich Albrecht. Zwischen 20 und 25 Kinder sind in einer Klasse und normalerweise gibt es nur zwei Klassen in einem Jahrgang, damit es übersichtlich und familiär bleibt. "Eine positive Beziehung macht den Schulalltag angenehmer und stressfreier", sagt Albrecht, der sich in den Pausen oft Zeit nimmt, um mit den Mädchen auf dem Schulhof Seilzuspringen oder mit den Jungs Basketball zu spielen. Insgesamt sechs Jahre begleitet ein Klassenlehrer "seine" Klasse, lernt seine Schützlinge kennen und hilft ihnen manchmal sogar beim Einstieg in den Beruf, in dem er bei dem Unternehmen anruft, um über den Charakter seines Schülers zu sprechen. "Wenn man als Lehrer Zeit in seine Schüler investiert", schwärmt Albrecht, "kommt so viel zurück, was einen erfreut und glücklich macht."
Die Ausgeglichenheit spiegele sich auch im Lehrerkollegium wieder: während anderorts in Nordrhein-Westfalen die Hauptschullehrer am häufigsten krank sind, vergingen an der AHF Hauptschule Monate, in denen kein einziger Lehrer fehlte. An vergleichbaren Schulen sei es normal, wenn in jeder Klasse jede Woche zwischen zwei und vier Stunden ausfielen. "In den 14 Jahren seit Bestehen der Schule kann man den Unterrichtsausfall pro Klasse an den Fingern einer Hand abzählen", erzählt Albrecht stolz.
Das Kollegium sei seit Jahren stabil und nehme sich auch für zusätzliche Aufgaben Zeit. So besucht der Klassenlehrer zum Beispiel zu Anfang der 5. und 6. Klasse jeden seiner Schüler zu Hause, um einen Nachmittag lang das Familienleben zu erleben. "Man versteht ein Kind viel besser, wenn man gesehen hat, unter welchen Umständen es aufwächst", argumentiert Albrecht. Schüler mit kranken Eltern oder besonders vielen Geschwistern zum Beispiel bekämen aber trotzdem keinen Freifahrtschein, sondern einfach nur mehr Verständnis, wenn manche Dinge nicht so funktionieren wie eigentlich üblich.
Unüblich ist auch die Tatsache, dass jedes Jahr mit jeder Klasse eine Klassenfahrt gemacht wird. Von der 5. bis zur 9. Klasse sind die Orte in der Umgebung und Schwerpunktthemen wie Freundschaft, Berufsleben oder Partnerschaft vorgegeben, was die Organisation erleichtert, weil die Lehrkräfte auf bereits vorhandene Materialien zurückgreifen können. Die Abschlussfahrt der 10. Klasse darf frei gewählt werden. "Die Klassenfahrten kosten zwischen 60 und 80 Euro und wenn das für die Eltern eines Schülers mal zu teuer ist, fragen wir, ob nicht jeder ein oder zwei Euro mehr bezahlen kann – natürlich ohne den Namen des Betroffenen zu nennen", erzählt Albrecht. Bisher habe man am Ende dann viel mehr Geld gehabt als eigentlich nötig gewesen wäre, weil die Eltern großzügig gespendet hätten. Die Kosten der Lehrer für die Klassenfahrt und auch für Fortbildungen bezahlt der Träger.
Aber nicht nur das ist anders an der AHF Hauptschule, auch das Schulklima und die Lernatmosphäre unterscheiden sich von anderen Schulen, wie Viktoria Reimer feststellen konnte. Sie hat ihre Tochter bewusst hier und nicht an der Gesamtschule des gleichen Trägers angemeldet. "Dadurch, dass es hier alles kleiner ist und man feste Abläufe hat, kann meine Tochter sich besser konzentrieren und lässt sich nicht so leicht ablenken. Die Strenge und die Regeln geben Halt", erzählt sie.
Durch ein sogenanntes "Logbuch" bleiben Lehrer und Eltern zum Beispiel in ständigem Kontakt. In dieses Büchlein tragen die Schüler ihre Hausaufgaben, die Lehrer sowohl positive als auch negative Bemerkungen und die Eltern Anmerkungen ein, die sie dem Lehrer mit auf den Weg geben wollen. Und am Ende jeder Woche unterschreiben die Eltern das Ganze. "Das Logbuch gibt Verlässlichkeit", findet Lehrerin Veronika Funk, "die Schüler können jetzt "entspannen", weil sie wissen, wie es funktioniert und die Eltern behalten auch in schwierigen Zeiten den Überblick über die Leistungen ihrer Kinder." Wird das Logbuch drei Mal zu Hause vergessen, gibt es einen Tadel – werden drei Mal die Hausaufgaben nicht gemacht, wird nachgesessen. "Die Disziplin muss sein, das brauchen unsere Schüler. Und wir wollen, dass sie Erfolg haben", so Funk. Auch Schulleiter Erich Albrecht sieht das so: "Wir erklären Dinge ruhig und geradlinig und dann halten wir diese Linie."
Viktoria Reimer hat drei Kinder auf den verschiedenen August-Hermann-Francke Schulen und war selbst als Kind dort. Für sie war die angestrebte Wertevermittlung – Nächstenliebe, Freundlichkeit und ein gutes Miteinander – ein wichtiges Kriterium für ihre Entscheidung. "Ich unterstütze es, dass Christen nicht klein bleiben und dass sie in der Gemeinschaft, in der Stadt und im Land bewegen." Das macht die Hauptschule auf viele Arten, unter anderem mit dem Programm "Einsatz für Jesus – train & go": dabei arbeiten Schüler in den Ferien in Deutschland, Rumänien, Albanien, Moldawien oder Kirgistan in sozialen Projekten. Um den Einsatz zu bezahlen, organisieren sie beispielsweise Spendenaktionen und helfen in der Schule bei Hausmeistertätigkeiten, in der Bibliothek, im Personalbüro oder bei sonstigen Aufgaben mit. "Hier bleibt man in der Schule nicht unter sich, sondern man gibt viel weiter nach außen. Das hier ist nicht nur Schule, sondern auch ein Sozialprojekt", lobt Reimer.
Drei Viertel der Schüler kommen von der AHF-Grundschule, um die restlichen Plätze bewerben sich Eltern. In einem halbstündigen Gespräch versucht Schulleiter Albrecht herauszufinden, ob die AHF Hauptschule die richtige Wahl für das Kind ist. Das Verhältnis von freien Plätzen zu Bewerbungen ist ungefähr eins zu drei – dabei spielt die Konfession des Kindes im Alltag keine Rolle. "Wir wollen all Kinder im Glauben ermutigen – egal aus welcher Richtung er kommt. Der Glaube soll persönliche Lebenseinstellung werden", erklärt Albrecht. Die Teilnahme am bibelzentrierten Religionsunterricht und an den vier bis fünf Schülergottesdiensten ist jedoch Pflicht. Es sei auch schon häufiger vorgekommen, dass Muslime ihr Kind an der Schule angemeldet hätten, doch nach wenigen Tagen sei die Anmeldung immer wieder zurückgezogen worden.
Die Philosophie seiner Schule beschreibt Direktor Erich Albrecht so: "Wir wollen hier keine Lernfabrik sein, sondern ein Lernzuhause. Wir versuchen zusätzliche Mamas und Papas zu sein und die Schüler so zu behandeln wie unsere eigenen Kinder." Vermutlich ist auch das ein Grund, warum die August-Hermann-Francke Hauptschule in Detmold zu den besten zwei Prozent der Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen gehört.