Zuletzt befeuerte der Journalist Ulf Poschardt diese Debatte. An Heiligabend twitterte der Chefredakteur der "Welt": "Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den #Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?" Seine Kritik entzündete sich an einer Predigt des protestantischen Pfarrers Steffen Reiche in Berlin, der unter anderem auf die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), auf Donald Trumps Steuerreform und auf russisches Staatsdoping zu sprechen gekommen war.
Auch die CDU-Politikerin Julia Klöckner äußerte sich kritisch, nachdem der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, in seiner Weihnachtspredigt auf das Motto "America first" von US-Präsident Trump angespielt hatte. Klöckner bemängelte tagespolitische Stellungnahmen der Kirchen generell. "Es kommt vor, dass aus manchen Kirchenkreisen mehr zum Thema Windenergie und Grüne Gentechnik zu hören ist als über verfolgte Christen, über die Glaubensbotschaft oder gegen aktive Sterbehilfe", sagte sie der "Bild".
Till Roth: Für die Trennung zwischen Kirche und Staat
"Mein Auftrag als Pfarrer ist in erster Linie, das Evangelium zu verkünden und Menschen seelsorgerlich zu begleiten. Politische Reden zu halten, gehört nicht dazu. Wer ein kirchliches Amt innehat, sollte sich meiner Meinung nach zurückhalten, egal welche Meinung er oder sie persönlich als Bürger hat. Eine Neuauflage der großen Koalition beispielsweise kann ich als Christ befürworten oder auch ablehnen. Deshalb hat so ein Thema weder in einer Predigt noch in sonst einer Verlautbarung kirchlicher Amtsträger etwas zu suchen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass ich als Pfarrer die Gemeinde spalte, anstatt Zusammenhalt zu schaffen. Auch das Pfarrdienstgesetz verlangt übrigens Zurückhaltung bei politischer Betätigung.
Es gibt Themen, zu denen haben sowohl Politik als auch die Kirchen etwas zu sagen, etwa wenn es um ethische Fragen oder den Umgang mit der Schöpfung geht. Hier kann es angemessen sein, vom biblischen Text her zu konkreten gesellschaftlichen Themen Stellung zu beziehen. Ich selbst bin in meinen Predigten zum Beispiel schon auf die Kultur öffentlicher Debatten eingegangen. Die 'hate speech' betrifft den Umgang der Menschen miteinander. Da wir als Christen einmütig glauben, dass der Nächste immer ein Geschöpf Gottes ist, haben wir als Kirchen durchaus zu diesem Thema zu sagen. Auch auf Flüchtlinge bin ich schon zu sprechen gekommen. Ich habe gesagt, dass aus dem christlichen Glaubensverständnis folgt, sie als Mitgeschöpfe Gottes zu achten, ihnen gleiche Rechte und Religionsfreiheit zuzugestehen. Wichtig war mir jedoch, allgemein zu bleiben. Es kann keine politischen Lösungen von der Kirchenkanzel geben.
Politik und Kirchen haben ihre jeweiligen Schwerpunkte, dabei sollte es bleiben. Als Christ kann ich in die Politik gehen und dort zu Tagespolitik reden. Aber bitte nicht im Gottesdienst. Es war ein langer und blutiger Kampf, die Trennung zwischen Kirche und Staat zu erwirken. Für diese Trennung sollten wir dankbar sein."
Udo Hahn: Predigten können nicht unpolitisch sein
"Predigten sind nicht unpolitisch, sie können es auch gar nicht sein. Meine Aufgabe ist es, die Bibel und die Menschen zusammenzubringen. Das ist ohne einen Blick auf die Lebenswirklichkeit nicht möglich. Verantwortung zu übernehmen - in der Familie, in der Nachbarschaft oder in der Kommune -, das berührt immer auch politische Fragen.
Das Tagesgeschehen kann ich nicht ignorieren. Wenn ein Flugzeug abstürzt oder sich ein Attentat ereignet, dann beschäftigt das die Menschen. Der Gottesdienst bietet den Rahmen, Sorgen und Ängste aufzunehmen - im Gebet und in der Predigt. Biblische Texte halten uns oft den Spiegel vor. Sie beschreiben, wie wir Menschen sind: dass wir Fehler machen, versagen, Schuld auf uns laden, auf Vergebung angewiesen sind, uns versöhnen und neu anfangen können. Als soziale Lebewesen sind wir stets auch auf andere angewiesen. Wie wollen wir gemeinsam leben? Eine Predigt soll dazu anregen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Der Prediger hat eine große Verantwortung: Was er sagt, muss den Dialog fördern.
Wenn den Kirchen vorgeworfen wird, sie seien zu politisch, stammt die Kritik oft von jemandem, der eine andere Meinung vertritt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde den Kirchen vorgehalten, sie hätten in der Zeit des Nationalsozialismus zu lange geschwiegen, sich nicht eingemischt, gar versagt. Diesem Vorwurf will sich heute kein Bischof und keine Pfarrerin aussetzen. Darf man Donald Trump zum Thema machen? Ja, natürlich! Dabei geht es nicht um seine Person, sondern um seine Haltung, die für mich nicht zum Vorbild taugt und deshalb kritisiert werden darf. Macht ohne Empathie ist gefährlich - dafür gibt es in der Bibel viele Beispiele. Ich möchte mir hier nicht den Mund verbieten lassen."