Frau Käßmann, Ende Juni verabschieden Sie sich in den Ruhestand. Räumen Sie schon den Schreibtisch auf?
Margot Käßmann: Bis Mitte Mai habe ich noch dienstliche Termine, den Katholikentag in Münster zum Beispiel. Ich besuche die deutsche Gemeinde in Peking und halte ein paar Predigten, etwa zur Heidelberger Disputation. In der Tat fange ich aber schon an zu schreddern. Das Büro in Berlin wird Ende März geschlossen, die Wohnung in Berlin ist aufgelöst. Da ist schon Abschiedsstimmung.
Der 1. Juli wird der erste Tag eines neuen Lebensabschnitts. Was planen Sie?
Käßmann: Ich freue mich darauf, meine Zeit wieder selbst einteilen zu können, auf Zeit mit meiner Familie, aufs Bücherschreiben. Vor allem in den elf Jahren als Landesbischöfin ist das Private zu kurz gekommen. Ich habe meinen Beruf mit Leidenschaft ausgeübt, aber ich finde es gut, wenn es jetzt ruhiger wird. Ich merke ja auch, dass ich 60 werde. Bis Ende Dezember jedenfalls habe ich keinen öffentlichen Termin zugesagt.
Wann kann die Öffentlichkeit wieder mit Ihnen rechnen? Dass Sie sich ganz zurückziehen, scheint schwer vorstellbar.
Käßmann: Mir fällt das nicht so schwer. Öffentlichkeit heißt auch ständige Auseinandersetzung, angreifbar zu sein und Kritik einzustecken. Das habe ich auch in Form von Bosheit und Häme erlebt. Ich muss ehrlich sagen, ich bin dessen ein bisschen müde. Jetzt sind andere dran.
Was hinterlassen Sie Ihrer Kirche als Rat oder Wunsch?
Käßmann: Ich wünsche ihr, dass Begeisterungsfähigkeit für den Glauben da ist. Wir brauchen lebendige Gottesdienste. Es gibt eine Sehnsucht danach. Die Leute sind auf Sinnsuche, wollen handyfreie Zonen und Entschleunigung. Das können sie in der Kirche alles haben. Ich wünsche unserer Kirche, dass sie Zutrauen hat in die anstehenden Veränderungen, dass es kein angstbesetzter Prozess ist.
Wo sehen Sie Angst?
Käßmann: Es bringt beispielsweise Belastungen mit sich, wenn Pfarrstellen zusammengelegt oder gestrichen werden. Es herrscht das Gefühl, alles werde schlechter. Früher waren fast alle Menschen Mitglied einer Kirche. Das muss aber nichts heißen. Vielleicht waren die Menschen damals auch nicht gläubiger als heute.
Was haben Sie in diesem Punkt aus den vielen Veranstaltungen und Treffen im Reformationsjubiläum gelernt?
Käßmann: Besonders in Ostdeutschland hat sich die Kirche als gesprächsfähig erwiesen. Die Menschen dort fanden das Angebot niedrigschwellig genug, um zu kommen.
Um daran anzuknüpfen, wurde auf der EKD-Synode über eine Schnuppermitgliedschaft diskutiert. Was halten Sie von einer "Kirchenmitgliedschaft light"?
Käßmann: Es kann jeder - ob Mitglied oder nicht - zur Kirche kommen, in den Chören mitsingen oder seine Kinder zum Konfirmandenunterricht schicken. Da sehe ich das Problem nicht. Ich finde, wenn sich jemand für die Kirche entscheidet, dann auch ganz. Im Fitness-Studio gibt es ein Probe-Abo, aber selbst da muss ich irgendwann entscheiden: Will ich Mitglied sein oder nicht?
Sie ziehen zurück nach Hannover. In Niedersachsen soll der Reformationstag dauerhaft Feiertag werden. Sehen Sie noch Chancen für einen bundesweiten Feiertag?
Käßmann: Wenn Deutschland ein Datum hat, an dem sich Bildung, Sprache und Kultur denkwürdig verändert haben, dann ist das der 31. Oktober. Deshalb sollte der Reformationstag ein bundesweiter Feiertag sein.
Kirche sollte aber keine Parteipolitik betreiben
Manche sagen, der Reformationstag mute anachronistisch an in einer religiös pluraler werdenden Gesellschaft. Brauchen wir auch einen islamischen Feiertag?
Käßmann: Zwei Drittel der Deutschen sind Mitglied einer Kirche. Man muss nicht so tun, als sei die Kirche in eine Minderheitenecke gerückt. Bei aller notwendigen Kritik an Luther - der Reformationstag steht für die Prägung der deutschen Sprache, für die Rede- und Meinungsfreiheit und letztlich auch für die Religionsfreiheit. Ich glaube, das können Muslime durchaus mitfeiern.
Für manche Ihrer Äußerungen wie zum Beispiel "Nichts ist gut in Afghanistan" in Ihrer Neujahrspredigt 2010 sind sie stark kritisiert worden. Berührt Sie das heute noch?
Käßmann: Ich finde meine Worte immer noch richtig. Deutschland war damals das erste Mal damit konfrontiert, dass die Bundeswehr im Ausland nicht nur Brunnen bohrt und Mädchenschulen baut, sondern im Krieg ist. Mit so massiver Kritik hatte ich aber nicht gerechnet. Ich bin in Rechtfertigungsdruck geraten, der mich atemlos gemacht hat. Heute würde ich wahrscheinlich gelassener und später reagieren.
Auch heute eckt die EKD-Spitze immer wieder mit politischen Äußerungen an. Wie politisch soll und darf Kirche sein?
Käßmann: Bei manchen Predigttexten kann man gar nicht an der politischen Situation vorbei. Ein Beispiel ist "Der Fremdling, der unter Euch wohnt, den sollt ihr schützen". Da kann ich nicht sagen, das hat mit der Situation in unserem Land nichts zu tun. Es macht die Bibel so faszinierend, dass sie etwas mit unserer Zeit und unserer Welt zu tun hat. Kirche sollte aber keine Parteipolitik betreiben. Es ist ihre größte Chance, dass sie gegenüber allen Parteien gesprächsfähig ist.
Ich kann den Rassismus dieser Partei und den christlichen Glauben nicht zusammenbringen
Gilt das auch für AfD-Politiker?
Käßmann: Wenn sie gesprächsfähig sind, ja. Meine Erfahrung ist nur, dass da gepöbelt wird ohne Ende. Ich kann den Rassismus dieser Partei und den christlichen Glauben nicht zusammenbringen. Aber wenn mir jemand erklärt, er könne das, würde ich mit ihm darüber sprechen.
Die Essener Tafel hat entschieden, erst einmal keine Ausländer mehr aufzunehmen. Ist das Rassismus?
Käßmann: Es sieht zumindest danach aus. Allerdings finde ich, dass viel zu schnell geurteilt wurde über die Tafel, ihre Mitarbeiter und die reale Situation. Wenn Alleinerziehende und Alte sich dort nicht mehr hin trauen, dann müssen Lösungen gesucht werden. Ob die Lösung heißt montags Alleinerziehende, dienstags Alte, mittwochs die mit Migrationshintergrund oder anders, muss die Tafel entscheiden.
In der Debatte um die Tafel fielen Worte wie "Verteilungskampf". Wie groß ist das Armutsproblem in Deutschland?
Käßmann: Es gibt vor allem arme Kinder. Sie sind arm, weil sie ohne Beteiligungs- und Bildungschancen aufwachsen. In meiner Generation war das System durchlässiger. Viele studierten, auch wenn die Eltern kein Abitur hatten. Das ist heute anders und verlangt nach Investitionen in Kitas, Grundschulen, Sozialarbeiter. Ich bin deshalb dafür, dass Kitas beitragsfrei sind - und zwar alle. 430 Euro pro Monat sind für viele Familien zu viel. Dann bleiben die Kinder zu Hause.
Sie waren die erste Frau an der Spitze der EKD. Wie verfolgen sie die #metoo-Debatte um Frauenrechte?
Käßmann: Die Diskussion ist gut, weil sie einiges bewusst macht über Sexismus im täglichen Umgang. Erst letztens hörte ich über eine junge Pfarrerin: "Die sieht echt gut aus und kann sogar noch predigen." Ich will kein krampfhaftes Verhältnis zwischen den Geschlechtern, das kann auch entspannt lustig sein. Aber zwischen einem harmlosen Flirt und letztlich abwertenden Äußerungen, weil sie nur auf das Aussehen zielen, gibt es einen Unterschied. Das Bewusstsein dafür wird gerade geschärft.
Sind Frauen in der Kirche besser aufgehoben als in der Filmindustrie? Wie haben Sie das erlebt?
Käßmann: Die Kirche ist kein sexismusfreier Raum. Ich habe durchaus Briefe mit Beschwerden über meine kurzen Haare gekriegt, weil in der Bibel steht, das lange Haar sei der Schmuck der Frau. Besonders kurios fand ich den Vorwurf über das Tragen von Absätzen begründet mit dem Bibelzitat "Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden". Ein Oberlandeskirchenrat hat verweigert, mich mit "Bischöfin" anzusprechen. Für die Pfarrerinnen hat sich da aber vieles entwickelt. Die erste Generation von Pfarrerinnen hat noch versucht, wie ein Mann zu sein, um überhaupt eine Chance zu haben. Die zweite wollte bewegt vom Feminismus alles demonstrativ anders machen. Die dritte sagt: Es kommt auf die Person im Talar an. Das scheint mir ein guter Weg zu sein.