Die ersten Bilder zeigen einen alten Mann und seinen Hund. Wortlos geht Herr Claassen (Dieter Schaad) ins Schlafzimmer, nimmt ein Kissen und erstickt seine im Bett liegende Frau. Anschließend schluckt er Tabletten und wählt den Notruf, um die zwei Todesfälle zu melden: "Es ging nicht mehr." Er wolle den Nachbarn kein Ungemach bereiten ("Tote riechen doch"); außerdem müsse sich jemand um den Hund kümmern. Aber der alte Mann wird gerettet, und Kommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) muss wegen Mordes ermitteln, obwohl sie das gar nicht will, wie sie bei einem Gespräch mit ihrer Tochter und Vorgesetzten (Camilla Renschke) erklärt. So ein gemeinschaftlich begangener Suizid, findet sie, sei doch "für alle Beteiligten die beste Lösung": weil "sozialverträgliches Frühableben" dem Staat viel Geld und den Angehörigen viel Kummer und Arbeit erspare.
Spätestens jetzt wird deutlich: "Im toten Winkel" ist ein Drama mit anderen Mitteln und einer jener Sonntagsfilme, die ihre Botschaft als Krimi verpacken, weil sie dann leichter bekömmlich ist. Dagegen ist im Grunde nichts zu sagen, solange Buch und Regie nicht vergessen, dass die Betonung dem Anliegen zum Trotz auf Krimi liegen sollte; das gelingt erfahrungsgemäß nicht immer. In diesem Fall kommt hinzu, dass Regisseur Philip Koch anscheinend kaum Wert auf fesselnde Umsetzung oder eine besondere Bildgestaltung gelegt hat. In den letzten Jahren ist der "Tatort" aus Bremen stets von Florian Baxmeyer inszeniert worden. Die Handlungen waren oft außergewöhnlich, allen voran zuletzt "Echolot" und "Nachtsicht", aber sehenswert waren die Filme auch wegen der optischen Ästhetik. Kochs Inszenierung erinnert dagegen mitunter an ein etwas dröges klassisches Fernsehspiel; dabei hat der Regisseur zuletzt mit "Hardcore" und "Der Tod ist unser ganzes Leben" zwei ganz vorzügliche "Tatort"-Beiträge aus München gedreht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch stammt von Katrin Bühlig, die für die "Bella Block"-Episode "Weiße Nächte" mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet worden ist. Mit "Im toten Winkel" erzählt sie eine Geschichte über den Pflegenotstand, wie sie auch schon Gegenstand diverser Reportagen und Dokumentationen war. Zwei weibliche Figuren stehen für die beiden verschiedenen Ebenen des Themas: Akke Jansen (Dörte Lyssewski) kümmert sich seit vier Jahren tagein, tagaus um ihre demente Mutter (Hiltrud Hauschke) und ist schon lange am Ende ihrer Kräfte, weil die alte Frau ähnlich viel Aufmerksamkeit braucht wie ein kleines Kind. Die bedrückendsten Szenen des Films zeigen, wie sich Wut und Hilflosigkeit ein Ventil suchen, wenn die vermeintlich boshafte Mutter wieder mal nicht kooperieren will oder Geschirr zerdeppert, und gipfelt in der unerhörten Frage der Tochter: "Wann stirbst du endlich?"; die Situation ist für beide Frauen gleichermaßen unerträglich. Wem Bühligs Anklage gilt, ist klar, auch wenn sie nicht ausgesprochen wird: Was ist das für ein Staat, der seine Bürger derart im Stich lässt? Die Frau auf der anderen Seite des Spektrums heißt Darja Pavlowa (Jana Lissovskaia). Sie ist Geschäftsführerin eines Pflegedienstes, der in großem Stil abkassiert: weil den Krankenkassen Vorgänge in Rechnung gestellt werden, die nie erfolgt sind; und weil, wie ein Kollege von Lürsen und Stedefreund (Oliver Mommsen) in einem Kurzvortrag ausführt, Hilfskräfte als Fachpersonal abgerechnet werden.
Die Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen ist Gutachter Carsten Kühne, der der Mutter von Akke Jansen die dringend nötige höhere Pflegestufe verwehrt, aber bei Pavlova Provision kassiert, wenn er ihren Pflegedienst empfiehlt. Als Kühne tot aufgefunden wird, hat Lürsen endlich einen "richtigen" Mordfall. Das Ableben des Gutachters ist allerdings schon deshalb bedauerlich, weil Peter Heinrich Brix diese Rolle ungleich differenzierter interpretiert als seine Figuren in der einstigen Krimireihe "Pfarrer Braun" oder der NDR-Kultreihe "Neues aus Büttenwarder", die eher dem Rollenmuster "Trottel vom Dienst" entsprechen. Kühne dagegen scheint seine Aufgabe ernst zu nehmen, selbst wenn er hin und wieder die Hand aufhält. Die Suche nach seinem Mörder beschert dem Film zwar keine Krimispannung, aber nun wird er immerhin dem Sendeplatz gerecht. Davon abgesehen jedoch ist "Im toten Winkel" gerade wegen des Realitätsbezugs ein überaus unbequemer und ausgesprochen freudloser "Tatort" aus Bremen. Das gilt erst recht für das traurige Schicksal der Alten, die sich, wie es Herr Claassen formuliert, das Leben nicht mehr leisten können.