Masseninteresse für Katharina und Klopp – und was noch?

Jörg Bollmann, Direktor des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP)
Foto: Lena Uphoff
Jörg Bollmann, Direktor des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP).
Masseninteresse für Katharina und Klopp – und was noch?
Wie erkennen wir, was christlich ist und was unchristlich? Es gibt keine Zukunft der Kirche in einer pluralen Gesellschaft ohne ihre Publizistik, das ist die These von Jörg Bollmann. Aber wie viel Freiheit geben wir uns gegenseitig in der evangelischen Publizistik? Der Vortrag von GEP-Direktor Jörg Bollmann zum Christlichen Medienkongress in Schwäbisch Gmünd 2018.

„Masseninteresse für Katharina und Klopp – und was noch?“ So heißt das Thema meines Vortrags. Masseninteresse. Für den in der ARD ausgestrahlten Film Katharina Luther heißt das übersetzt: 7,2 Millionen Zuschauende haben sich interessiert für das Schicksal von Katharina und ihren Leidensgenossinnen. Wir haben gesehen, was los war, als die hilfesuchenden Frauen auf dem Marktplatz in Wittenberg ankamen. Von unseren Sesseln und Sofas in unseren gut geheizten Wohnzimmern des 21. Jahrhunderts konnten wir mithilfe des von der Eikon produzierten Spielfilms direkt reinschauen ins Geschehen auf dem Wittenberger Platz im 16. Jahrhundert. Wie feindselig wurden die Frauen empfangen, wie bedrohlich wurden Fäuste gegen sie geschüttelt, wie wurden sie beleidigt und beschimpft, wie wurden sie sexuell bedrängt und belästigt, wie wird Karoline Schuch als Katharina später der Einkauf auf dem Markt verweigert, weil sie als entlaufene Nonne Unglück bringe. Wie kämpft sich Devid Striesow als Martin Luther einen Weg durch die tobende Menge frei, wie steht er den Frauen lautstark zur Seite, wie nimmt er sie unter seinen Schutz.

Ob das wirklich so war? Wir können es uns vorstellen, bildhaft und lebendig, dank dieser großartigen Filmproduktion. Und wir dürfen uns mitnehmen lassen auf die Reise in unsere Vergangenheit. Es ist eine Vergangenheit, in der Männer über Frauen willkürlich zu bestimmen hatten. Eine Vergangenheit, in der die Männer die Frauen hemmungslos unterdrückt haben, in der Frauen um der ungestörten männlichen Erbfolge willen hinter Klostermauern gesperrt wurden – das war bittere Realität im 16. Jahrhundert. Die von Martin Luther in Gang gebrachte Reformation führt auf einem langen Weg bis in unsere Zeit zur Überwindung von Angst, zur Befreiung aus der Unwissenheit mithilfe von Sprache und Bildung, zur Demokratisierung von Politik und Gesellschaft und auch zum Abbau von Unterdrückung der Geschlechter bis hin zur Gleichstellung von Mann und Frau in unserer modernen Gesellschaft. Das alles findet statt im steten Ringen um den rechten Glauben, in der steten Bitte um die Gnade Gottes, die wir uns nicht verdienen können. Die uns aber zuteil wird, wenn wir glauben. Deshalb dürfen wir angstfrei leben und frei sein, auch meinungsfrei, Männer und Frauen gleichermaßen. Dem Film sei Dank, dass das viele Menschen fiktional miterleben durften. Ein Film der evangelischen Publizistik. Katharina – und was noch?

Schauen wir auf die Gegenwart der evangelischen Kirche, schauen wir auf die Gegenwart der evangelischen Publizistik. Gerade jetzt, gerade in dieser Woche erleben wir in der evangelischen Publizistik eine heftige Kontroverse. In einem idea-Kommentar lesen wir, die katholische Kirche mache es vor, während die EKD schweige. Die katholische Kirche habe sich klar gegen die Abschaffung von Paragraph 219a positioniert. Der chrismon-Chefredakteurin Ott, die sich in einem Online-Kommentar auf chrismon.de für die Abschaffung von Paragraph 219a ausgesprochen hatte, wirft der Kommentar einen kalten Blick vor, der das wehrlose Leben konsequent ausblende. Der Kommentar endet mit dem Satz: „Einen so unsäglichen Kommentar wie den von Chefredakteurin Ott hätte es in einem katholischen Medienhaus niemals gegeben – und wenn, wäre es ihr letzter in dieser Funktion gewesen.“

Ich verstehe diesen letzten Satz doch wohl richtig: 500 Jahre nach der Reformation lese ich in dem idea-Kommentar eine positive Bewertung für die katholischen Kirche, weil die nach Ansicht der Kommentatorin dafür sorgen würde, dass missliebige Meinungen mit dem Ausschluss aus beruflichen Ämtern bestraft und somit zum Schweigen gebracht werden. Und die Kommentatorin wünscht sich ein entsprechendes Verhalten der EKD. Wobei missliebig ist, was als unchristlich definiert wird. Und was ist unchristlich?

Das zu bestimmen obliegt nach vorreformatorischem Verständnis nicht dem Gläubigen in seinem Bemühen um die Nähe zu Gott und seiner Gnade. Erst recht nicht der Gläubigen in ihrem Bemühen um die Nähe zu Gott und seiner Gnade. Die Definition von christlich oder unchristlich oblag vor der Reformation der katholischen Kirche mit dem Papst an der Spitze und in Deutschland nach der Reformation dem jeweiligen Glauben der Landesfürsten. Was ja im reformatorischen Sinne schon ein Fortschritt war. Und was ist nach unserem heutigen Verständnis unchristlich? Wer definiert das im 21. Jahrhundert?

Orientierung nur mit Androhung von Sanktionierung?

Wenn ich den idea-Kommentar richtig verstanden habe, sollte das der jeweiligen Amtskirche vorbehalten sein. Denn die Kommentatorin wünscht sich von der EKD, ich zitiere: „In der Debatte um § 219a geht es definitiv um Orientierung – hier ist Schweigen fehl am Platz. Weil es um menschliches Leben geht.“ Orientierung – von wem? Je nach Position der jeweiligen Amtskirche? Also katholisch oder evangelisch? Und dann in der konsequenten Fortführung im Blick auf evangelische Kirchenstrukturen abhängig vom jeweiligen Bekenntnisverständnis der Landes- oder der jeweils zuständigen Freikirche, also lutherisch oder reformiert oder uniert oder liberal oder pietistisch oder evangelikal? Oder orthodox oder koptisch oder angelehnt an andere Bekenntnisausprägungen? Und – das wäre die nächste Frage - soll die Bewertung wiederum abhängig sein vom Grad der jeweiligen als christlich beziehungsweise unchristlich zu definierenden Haltung? Wenn es zum Beispiel um menschliches Leben geht, braucht es dann Orientierung mit der Androhung von Sanktionierung?

Überprüfen wir diese Haltung an konkreten Beispielen.

Thema Sterbehilfe. Viele Kommentare in Politik, Kirche und Medien haben die Debatte 2015 im Deutschen Bundestag als eine Sternstunde des Parlaments gelobt. Weil die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet debattiert und entschieden haben. Und die Frage ist: Welche Haltungen waren jetzt christlich, welche unchristlich? Was ist mit dem Gesetzentwurf, der schließlich die Mehrheit bekommen hat, nach dem die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt wird, Beihilfe zur Selbsttötung aber im Einzelfall straffrei bleibt. Ist das jetzt christlich oder unchristlich, weil auch die Hilfe zur Selbsttötung im Einzelfall immer noch ein Verstoß gegen das sechste Gebot, das Tötungsverbot, ist? Oder stimmt es auf der anderen Seite, was der SPD-Bundestagsabgeordnete Lauterbach twitterte, dass dieses Gesetz weit weg vom Leid der Verzweifelten sei, die sich eine mögliche Hilfe in der Not erhofften. Welche Haltung ist christlich, welche ist unchristlich, und wer entscheidet das?

Thema Familiennachzug. Die Fragen, die sich Flüchtlinge stellen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie an Leib und Leben bedroht sind, berühren menschliches Leben unmittelbar. Nämlich das der Flüchtlinge, und das sind von Gewalt, Tod und Zerstörung bedrohte Männer, Frauen und Kinder. Wer jetzt also politisch für eine Obergrenze eintritt, wer sich gegen Familiennachzug einsetzt oder ihn einschränkt: Handelt der unchristlich? Oder gerade im Blick auf das Wohl und Wehe von Christen in diesem Land christlich?

Thema Auslandseinsätze. Bundeswehrsoldaten, die in den lebensgefährlichen Einsatz im Ausland geschickt werden, stehen vor dem Zwang, töten zu müssen. Das berührt menschliches Leben unmittelbar. Nämlich das eigene der Soldatinnen und Soldaten und das derer, das sie im Verteidigungszwang mit Waffengewalt beenden müssen. Ist unchristlich, wer sich für einen bewaffneten Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan einsetzt, trotz des Gebots, nicht töten zu dürfen? Oder ist gerade der christlich, der Auslandseinsätze der Bundeswehr zum Schutz des Lebens der dort wohnenden Menschen fordert? Und wer entscheidet das?

Thema Schwangerschaftsabbruch. Ist es eine unchristliche Haltung, wenn sich eine Kommentatorin für die Abschaffung von § 219a ausspricht, also für die Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche, nicht etwa für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbruch. Weil sie sich sorgt um das Lebens- und Selbstbestimmungsrecht der Frauen in diesem Land? Weil sie sich dafür einsetzt, dass Frauen im Notfall in gute ärztliche Hände, Betreuung und Beratung, kommen und die Möglichkeit haben, sich darüber zu informieren, wer ihnen vor Ort helfen kann. Ist das unchristlich? Oder im Gegenteil christlich?

Allein die Fragen machen deutlich, wie groß der Reichtum ist, den uns die protestantische Reformation geschenkt hat. All diese Fragen reichen tief hinein in unser Gewissen, all diese Fragen dürfen wir vor Gott bringen und in unsere Beziehung mit Gott hineintragen. Eine Beziehung, die uns allein Jesus Christus geöffnet hat – „niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14,6).

Wir dürfen unseren Glauben in stetigen Vergewisserungsprozessen und im stetigen Gebet mit Gott entwickeln. Gern eingebettet in die christliche Gemeinschaft, gern mithilfe der Gemeinde, gern auch mithilfe der Kirche, gern auch der Amtskirche und einer Positionierung von katholischer Bischofskonferenz und EKD, gern auch an der Seite der Pfarrerinnen oder Pfarrer unseres Vertrauens oder auch mithilfe der evangelischen Publizistik. Aber nicht – und das haben die Reformatoren unter Einsatz ihres Lebens den willkürlich herrschenden Autoritäten ihrer Zeit mit strengem Verweis auf die Bibel abgetrotzt und uns als Geschenk durch die Zeiten weitergegeben – nicht durch Dekret oder Befehl der Amtskirche. Nicht durch Einschüchterung und Entzug des beruflichen Amtes.

Niemand will zurück ins 16. Jahrhundert

Oder wollen wir es anders? Wollen wir zurück ins 16. Jahrhundert von Katharina Luther? Das kann doch niemand wollen, das können auch die Kommentatorin von idea nicht wollen. Ihr Kommentar ist übrigens auf Seite 9 in derselben Ausgabe von idea Spektrum veröffentlicht, in der eine kleine Andacht von mir ein paar Seiten später auf Seite 25 in der Kleinen Kanzel erschienen ist. So kann ich jetzt wiederholen, worum ich dort bitte in Bezug auf den 1. Brief des Johannes 4,19: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“ Lasst uns, liebe Schwestern und Brüder, um den rechten Glauben streiten, engagiert, aber bitte liebevoll. Liebevoll heißt, dass wir uns in gegenseitiger Achtung ernst nehmen in unseren unterschiedlichen Auffassungen, wie wir Gott nahe sein können. Dass wir uns achten in unseren unterschiedlichen Auffassungen, was christlich ist und was nicht und was wir mit unserem Gewissen vereinbaren und vor Gott bringen können.

Wie gut, dass der Journalist Peter Hahne sich unlängst lautstark für die Meinungs- und Pressefreiheit eingesetzt hat. Allerdings nicht in Verteidigungshaltung für die chrismon-Chefredakteurin, deren berufliches Ende im Übrigen von einer Online-Petition gefordert wird. So schematisch betrieben und zeitlich getaktet, dass der Verdacht nahe liegt: Hier ist ein Computer-Bot am Werk. Nein, Peter Hahne macht sich Sorgen um die Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit der Finanzierung von idea. Von einem Anschlag auf die Meinungsfreiheit hat er gesprochen in einem Kommentar zu der EKD-Entscheidung, idea nicht weiter mit Mitteln aus dem EKD-Haushalt zu unterstützen. Was sagt er, wenn es um die Forderung nach Entlassung der chrismon-Chefredakteurin geht? Kein Anschlag auf die Meinungsfreiheit? Ist die dann zuende, wenn - wer auch immer – den Stempel „unchristlich“ auf eine veröffentlichte Meinung platziert? Seien wir vorsichtig! Das könnte jedem von uns, jedem Produkt der evangelischen Publizistik passieren. So kommen wir ganz nah ran an Zensur, und dagegen sollten wir alle gemeinsam stehen.

Noch einmal die lästige Frage: Was ist denn unchristlich? Definiert das eine Online-Seite ohne Impressum, also ohne Absenderkennung, die aber eine Petition zur Entlassung einer Kollegin in Gang setzt? Oder die Kommentatorin eines Produkts der evangelischen Publizistik in Auseinandersetzung mit der Meinung einer Kollegin eines anderen Produkts? Und muss, wer als unchristlich markiert wird, zum Schweigen gebracht werden – durch Entzug der finanziellen Grundlage oder mittels Rausschmiss aus dem journalistischen Amt?

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, liebe Schwestern und Brüder – wollen wir uns wirklich auf ein solches Niveau herablassen? Ich glaube nicht. Ich will es nicht!

Katharina – und was noch? Nehmen wir uns Zeit, uns die Aufgaben vor Augen zu führen, vor die wir in der evangelischen Publizistik gestellt sind. Die Aufgaben und die Freiheitsrechte, die uns gewährt werden. Im Publizistischen Gesamtkonzept der EKD (1997) stehen wichtige Dinge, die auch heute noch nicht zurückgenommen sind:

1. „Die evangelische Publizistik ist eine Lebensäußerung der Kirche. Sie ist nur ihrem eigentlichen Mandat verpflichtet und an amtliche Weisungen nicht gebunden. Ihr Mandat ist zugleich ihre Freiheit.“

2. „Die evangelische Publizistik wird in Wahrnehmung ihres Mandats selbst zum institutionellen Bestandteil der Kirche. Sie ist dabei keineswegs nur ein Instrument der Kirche.“

3. „Das Mandat der evangelischen Publizistik verpflichtet zugleich zu einer unabhängigen Berichterstattung über das kirchliche Leben und die christliche Lebenswirklichkeit sowie zu einer kritischen Begleitung kirchlicher Vorgänge. Der evangelische Auftrag enthält selbst das entsprechende kritische Potenzial.“

Die Freiheit der evangelischen Publizistik und die ihr gewährte Unabhängigkeit der Berichterstattung findet ihre gesellschaftliche Entsprechung im Qualitätsjournalismus, zu dem im Publizistischen Gesamtkonzept steht: „Die evangelische Publizistik beteiligt sich an der Entwicklung und Bewahrung publizistischer Ziele und Standards und wirkt auf sie ein im Sinne christlicher Maßstäbe für eine gerechte und soziale Kommunikation“.

Evangelische Publizistik selbst in den Spiegel der Kritik nehmen

Ich wiederhole: Wir sind in der evangelischen Publizistik verpflichtet zu einer unabhängigen Berichterstattung über das kirchliche Leben und die christliche Lebenswirklichkeit sowie zu einer kritischen Begleitung kirchlicher Vorgänge. In diesem Sinne muss es Aufgabe der evangelischen Publizistik sein, sich auch selbst in den Spiegel kritischer Auseinandersetzung zu nehmen. Das hat zum Beispiel Jürgen Mette getan in seinem Beitrag in Pro zu chrismon, unter der Fragestellung: Wie evangelisch ist chrismon? Eine solche Reflexion muss sein, dem haben wir uns zu stellen. Und es muss auch eine kritische Auseinandersetzung geben in der evangelischen Publizistik mit einem Kommentar, dem es um die christliche Lebenswirklichkeit geht. Denn es handelt sich um christliche Lebenswirklichkeit, wenn das Recht des ungeborenen Lebens, aber auch das Lebens- und Selbstbestimmungsrecht der Frauen berührt ist. Natürlich ist es Aufgabe der evangelischen Publizistik, in dieser Frage um den rechten christlichen Weg zu streiten. Aber bitte in Anerkennung der Freiheitsgrade, die der evangelischen Publizistik im Besonderen durch die Definition im publizistischen Gesamtkonzept und der Presse im Allgemeinen durch die grundgesetzlichen Bestimmungen eingeräumt werden. Und, ich sage es noch einmal, ich bitte um sachliche Fairness, liebevoll einander zugewandt in der gegenseitigen Achtung, dass alle von uns auf Grundlage ihrer Glaubensüberzeugungen handeln, kommunizieren und kommentieren.

Katharina und Klopp – und was sonst noch? Sonst sollten wir uns nicht vorwiegend mit uns selbst beschäftigen. Wir wollen nicht nur für einen kleinen Moment, im Jahr des Reformationsjubiläums, wichtig und interessant für die von uns erreichten Menschen in unserer Gesellschaft gewesen sein, und einmal einen Aufmacher in der Tagesschau feiern. Die Gesellschaft braucht uns! Gerade wir in der evangelischen Publizistik tragen maßgeblich dazu bei, dass die christlichen Kirchen als wahrnehmbarer Akteur in der Mitte unserer Zivilgesellschaft bleiben.

Es gibt keine Kultur ohne Religion. Der promovierte Philosoph und Journalist Alexander Grau überschreibt mit diesem bemerkenswerten Satz seinen in Cicero, dem Magazin für politische Kultur, veröffentlichten Beitrag zum Thema Christentum – erschienen am 23. Dezember, einen Tag vor dem Heiligen Abend 2017. Es gibt keine Kultur ohne Religion! Diese journalistische Schlagzeile zum vergangenen Weihnachtsfest beendet das Jahr des Reformationsjubiläums. In dem wir es auch mit unserer Arbeit geschafft haben, die Menschen in seit Jahren nicht gekannter Intensität über Gott und die Welt ins Gespräch zu bringen, sei es auch nur mit dem Aufmacher in der Tagesschau. Können wir so weitermachen?

Oder haben wir ein Strohfeuer erlebt? War das Reformationsjubiläum das letzte Aufbäumen eines sich marginalisierenden Glaubens einer untergehenden Kirche? Auch das war zu lesen im vergangenen Jahr. Der Blick richtet sich auf schwindende Mitgliederzahlen bis unter die 20 Millionen-Marke in der evangelischen Kirche in den kommenden Jahren – wenn die Prognosen stimmen. Der Blick richtet sich auf eine nachwachsende Generation, weitgehend desinteressiert an Print und linearem Fernsehen, begeistert von YouTube, Instagram, WhatsApp und immer noch ein bisschen Facebook. Der Blick richtet sich auf Statistiken, die das sinkende Interesse an Taufen und Konfirmation belegen, auf leere Bänke in den Kirchen während der Gottesdienste.

Keine Kultur ohne Religion

Wir können uns natürlich auch selbst schlecht machen, die erreichten Aufmerksamkeitserfolge während des Jubiläumsjahres richtig diskriminieren, damit wir schlechte Laune kriegen: Den 31. Oktober mit dem Run auf die Gottesdienste können wir erklären als folkloristische Ausnahme, die Besuchszahlen in den Heiligabend-Gottesdiensten als Ausdruck von inhaltsloser Gefühlsduselei, die Klickzahlen für das Bekenntnis von Fußballtrainer Jürgen Klopp für seinen Glauben als Beleg für das Interesse an den ungewöhnlichen Aussagen eines ansonsten doch ganz vernünftigen und mit anderen Dingen beschäftigten Promis, die 7,2 Millionen Zuschauenden für Katharina Luther in der ARD als bloßes historisches Interesse, die AWA-ermittelten 1,5 Millionen Lesenden für chrismon als statistische Ungenauigkeit für eine Zeitschrift, die den Leuten umsonst zugestellt wird, die epd-Reichweite als empirische Theorie. So sind wir Protestanten: Bloß nicht übertreiben, nicht geschimpft ist genug gelobt.

Und dann diese Schlagzeile in einer säkularen Zeitschrift: Es gibt keine Kultur ohne Religion! Die im Übrigen bereits 2004 ihre nach wie vor gültige Entsprechung gefunden hat in der Kultur-Enquete des Deutschen Bundestages: Demnach zählen die beiden großen christlichen Kirchen zu den zentralen kulturpolitischen Akteuren Deutschlands. Weil sie wie kaum eine andere zivilgesellschaftliche Institution kulturelle Infrastruktur, kulturelles Gedächtnis und kulturelle Bildung in Deutschland fördern.

Wenn wir unsere Kinder und Enkelkinder nicht in eine kulturlose Gesellschaft schicken wollen, müssen wir alles dafür tun, dass sich die Horrorszenarien eines sich glaubens- und religionsleerenden Staatsgebildes nicht realisieren. Und uns evangelischen Publizisten kommt dabei eine wesentliche Aufgabe zu. Eine der ersten Übungen wäre, sich über den Erfolg der jeweils anderen Publikation, des anderen Formats, des anderen Produkts freuen zu können. Beifall von Radio Paradiso für die ERF-Sendung Musik und mehr, Begeisterung der CFF-Mitglieder und von Bibel TV für den von der Eikon produzierten Tatort, Anerkennung der epd-Kollegenschaft für die Meldungen von idea – so könnte evangelische Publizistik auch funktionieren. Durchaus unterschiedlich in der Ausprägung vom Glaubensverständnis und der Bekenntnisintensität, aber einig im Ziel und fest verbunden im Auftrag von Jesus Christus. Das würde mir gut gefallen. Katharina – und was sonst noch? So könnte es gehen.

Das würde allerdings voraussetzen, dass wir uns gegenseitig in unseren Rollen ernst nehmen und anerkennen würden. Ich will das hier klar und öffentlich sagen: Ich halte die Produkte idea, Pro, Family, Joyce, 3e, jesus.de, Bibel TV, die Hörfunk- und Fernseh-Formate des ERF und so weiter für hervorragend gemachte Produkte. Die passgerecht auf ihre Zielgruppe abgestimmt sind. Nehmen wir nur einmal das Beispiel ERF-Hörfunk, den ich jetzt dank DAB auch im Auto gut empfangen kann. Ein gut gemachtes, professionell durchformatiertes Radioprogramm. Und dennoch wissen wir auch, dass dieses Programm keine Mehrheiten ansprechen wird. Die große Mehrheit der Radiohörer, auch der christlichen Radiohörer, wird die Tagesbegleitwellen einschalten, je nach Geschmack privat oder öffentlich-rechtlich. ERF Plus hat seinen Platz im Reigen der evangelischen Publizistik gefunden und erfüllt mit all den anderen Produkten die Aufgabe, über die christliche Lebenswirklichkeit unabhängig zu berichten.

Kirche in der pluralistischen Gesllschaft

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm in seinem Buch „Radikal lieben“ aus, welche Rolle Kirche in der Lebenswirklichkeit eigentlich einnimmt. Er beschreibt drei Optionsmodelle: Kirche als Angebot in einer pluralistischen Welt, Kirche als Gegenmodell zur pluralistischen Gesellschaft oder Kirche als authentische öffentliche Kirche in der pluralistischen Gesellschaft. Für letzteres Modell spricht sich der Ratsvorsitzende aus. Er schreibt:

„Sowohl der Ansatz, Kirche lediglich als Angebot in einer pluralen Welt zu verstehen, als auch der, Kirche als Gegenmodell zur pluralistischen Gesellschaft zu begreifen, können nicht befriedigen.“ Also Kirche als authentische öffentliche Kirche in der pluralistischen Gesellschaft. Was kann evangelische Publizistik dafür tun? Ich behaupte, von der Funktionalität der evangelischen Publizistik hängt entscheidend ab, ob es gelingen kann, Kirche in dieser Rolle zu behaupten. Weil evangelische Publizistik notwendige Übersetzungsleistungen in einer säkularisierten Gesellschaft übernehmen kann.

Ich zitiere den Ratsvorsitzenden: „Die Einsicht“, so schreibt er in „Radikal lieben“, „dass Durchbrüche zu sozialer Gerechtigkeit, Befreiung von Not, die Erfahrung gerechter Teilhabe, auch dann als Wirken Gottes angesehen werden können, wenn sie sich nicht oder nicht primär im kirchlichen Kontext abspielen, bleibt in einem binnenkirchlichen Ansatz verschlossen. Ein tragfähiges Bild von Kirche in einer pluralen Gesellschaft ist das Bild einer öffentlichen Kirche als zivilgesellschaftlich relevante Gemeinschaft eigener Identität. Eine solche Kirche passt sich weder einfach dem gesellschaftlichen Pluralismus an, noch lehnt sie den modernen Pluralismus als solchen ab.“

„Ich“, so schreibt der Ratsvorsitzende weiter, „halte diese Position für tragfähig, weil sie biblisch begründete Identität mit Weltzugewandtheit verbindet, weil sie sich an den Problemen der heutigen Welt orientiert, ohne darin auf- oder unterzugehen, weil sie modern ist, ohne ihre geistlichen Wurzeln zu verleugnen.“

Eine Übersetzungsleistung für die Gesellschaft

Bedford-Strohm bekommt für diese Position philosophische Hilfe von höchster wissenschaftlicher Autorität. Nämlich, wenn es um die Notwendigkeit geht, kirchliche Positionen im Diskurs moderner Gesellschaften zur Geltung zu bringen. Der Soziologe Jürgen Habermas, Autor des Anfang der achtziger Jahre erschienen soziologischen Grundlagenwerks „Theorie des kommunikativen Handelns“, in dem noch keine Spur von religiöser Diskursnotwendigkeit zu entdecken ist. Nun aber hält es Habermas für unerlässlich, dass säkulare Gesellschaften in ihren Diskurs religiöse Positionen einbeziehen. Dazu aber, und da wird es spannend auch für uns, bedürfe es einer Übersetzung.

Wer soll diese Übersetzung leisten? Habermas weist diese Aufgabe den säkularen Diskursteilnehmenden zu. Betrachten wir aber noch einmal die Aufgabe der evangelischen Publizistik, christliche Lebenswirklichkeit darzustellen, dann kommt den Produkten und Arbeitsleistungen der evangelischen Publizistik gerade in der Frage der Übersetzung für die funktionierende Gesellschaft in unserem Land eine besondere Rolle zu.

Denn wir benötigen Übersetzungsleistungen für die Menschen, die nicht nach Ansprache suchen, sondern die wir ansprechen müssen und um deren Aufmerksamkeit wir kämpfen müssen – auch in Konkurrenz mit anderen säkularen medialen Angeboten. Dazu bedarf es unter anderem einer Nachrichtenagentur, die mehr als 100 Kunden in der Verlags- und Medienwelt bedient, einer Zeitschrift, die als kostenloses Supplement im Monat 1,5 Millionen Lesende erreicht, den von Markus Bräuer in seinem Grußwort genannten Fernseh- und Hörfunkformaten im Rahmen der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender, Filmen wie Katharina Luther, Prominenten wie Jürgen Klopp, einen neu aufzubauenden YouTube-Kanal, Facebook-Aktionen von evangelisch.de und ekd.de oder mehr. So können die von Habermas geforderten Übersetzungsleistungen gelingen, so dass wir gesellschaftliches Leben in Kongruenz bekommen mit christlicher Lebenswirklichkeit. Nicht nur jetzt und hier und im Jubiläumsjahr. Sondern auch in der mitgliederschwächeren Zukunft. Das ist meine Vision von Klopp, Katharina und was noch.

Eine solche Übersetzungsleistung ist teuer und kirchensteuerabhängig, weil wir Menschen erreichen wollen und im Auftrag von Jesu Christi auch erreichen müssen, die sich von sich aus nicht um Ansprache kümmern und schon gar nicht dafür bezahlen wollen. Die Landeskirchen halten Budgets bereit für ihre Medienhäuser, das GEP erfüllt diese Aufgaben satzungsgemäß und wird dafür aus dem EKD-Haushalt mit in diesem Jahr rund 12,8 Millionen Euro unterstützt. Die Mittel ermöglichen die Arbeit von epd, chrismon, der Rundfunkarbeit, die filmkulturelle Arbeit mit Sitz in der Filmförderanstalt, epd Film, die Online-Arbeit mit evangelisch.de, ein-jahr-freiwillig.de für die evangelischen Freiwilligendienste, Matthias-Film für den Schulunterricht, Geschäftsführung Netzwerk Öffentlichkeitsarbeit, Konferenz der Internetbeauftragten, Relaisstation Öffentlichkeitsarbeit für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Gliedkirchen, Werke und Einrichtungen, Senderbeauftragtenkonferenz, evangelischer Medienkongress, Geschäftsführung Geisendörfer Preis und weitere zahlreiche Aktivitäten. Und dazu kommen die Förderung der Eikon und das Budget für publizistische Angebote aus pietistischer oder evangelikaler Produktion.

Nicht im Klein-Klein der Mittelverteilung verlieren

[Die folgenden drei Absätze sind im gesprochenen Wort aus Zeitgründen stark zusammengefasst worden - dies ist die Manuskriptfassung der drei Absätze:]

Wie steht's mit der Entwicklung dieser Mittel, gern auch mit Blick auf die Gebührendiskussion im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Niemand hat bei idea angerufen oder bei Pro oder bei der ERF oder bei der KEP und um kritische Berichterstattung gebeten, als die EKD-Synode 2005 die Kürzung der Mittel des GEP um rund 27 Prozent beschlossen hat. Niemand hat Ratsmitglied Peter Hahne angesprochen und ihn als Mitbestimmer dieser Kürzungen gefragt, ob diese Mittelstreichung vielleicht eine Einschränkung von Pressefreiheit sein könnte. Niemand hat sich öffentlich beschwert, dass im Zuge der Kürzungspolitik der evangelischen Rundfunkarbeit unwiederbringlich 170.000 Euro fehlen. Niemand hat in der Berichterstattung analysiert, was der dauerhafte Verlust von 140.000 Euro für Matthias-Film für die evangelische Publizistik bedeutet oder wie der Wegfall von 200.000 Euro für den Medienfonds zu verkraften sind.

Warum auch? Es kann nicht Sinn und Zweck unserer Arbeit sein, uns im Klein-Klein der Auseinandersetzung um die Verteilung von Finanzmitteln zu verlieren. Die kirchenpolitischen Grundsatzentscheidungen sind – Helmut Matthies hat das in idea wunderbar skizziert – in den 70er Jahren gefallen. Mit der Gründung des GEP, der Gründung der KEP, mit idea und ihren je eigenen Finanzierungs- und Fördermodellen. Und weitere strukturelle Entscheidungen betreffen ERF und Bibel TV und CFF und Eikon und Matthias-Film und die landeskirchlichen Medienverlage und Buchhandlungen und die VEB und den EMVD und vieles andere mehr. Eine heterogene gut protestantische Szene in ihrer ganzen Vielfalt und zielgruppenspezifischen Zuspitzung.

In dieser Szene haben wir unsere Aufgabe zu erfüllen – auf Grundlage der jeweils funktionierenden Finanzierungsmodelle. Unsere Aufgabe in der pluralen Gesellschaft spitzt die Überschrift in Cicero wunderbar zu: Es gibt keine Kultur ohne Religion. Ich füge hinzu: Religion lässt sich in einer säkularen pluralen Gesellschaft nicht vermitteln – Habermas würde sagen: übersetzen – ohne die evangelische Publizistik. Darum geht es! Darum geht es nach Klopp und Katharina und den Jubiläumsfeierlichkeiten.

Evangelische Publizistik ist Lebensäußerung der Kirche

Noch einmal zusammengefasst: Wir haben eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe in diesem Staat zu erfüllen. Mit diesem Selbstbewusstsein sollten wir an die Arbeit gehen, so wie die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten selbstbewusst ihre Gebühreneinnahmen legitimieren. Dieses Land benötigt die christliche Religion, auch als Träger der kulturellen Vielfalt. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten erheben für ihren Grundversorgungsauftrag Gebühren, verfassungsrechtlich geschützt, unabhängig davon, ob die Gebührenzahler ARD- und ZDF-Angebote nutzen oder nicht. Die christlichen Kirchen verwenden die Mittel ihrer Mitglieder, die Kirchensteuern, zur seelsorgerischen, diakonischen, gesellschaftsdiakonischen, kulturellen, subsidiären, missionarischen Aufgabenerfüllung zum Wohle der ganzen Gesellschaft. Und ein kleiner Teil davon geht in die Arbeit der evangelischen Publizistik, die aber – nach Definition der evangelischen Kirche selbst – zur kirchlichen Aufgabenerfüllung unabdingbar ist.

Was kommt nach Katharina, Klopp und Co.? Lassen Sie uns selbstbewusst sein, lassen Sie uns zusammenstehen, lassen Sie uns nicht auseinanderdividieren. Es gibt keine Kultur ohne Religion. Ich spitze zu: Es gibt keine Zukunft der Kirche in einer pluralen Gesellschaft ohne ihre Publizistik. Nur wer wirklich versteht, dass evangelische Publizistik in allen ihren Teilen – kritisch, fromm, bekenntnisorientiert, filmkulturell, medienpädagogisch, medienethisch, nachrichtlich, unterhaltend, experimentell, streitbar, auch streitbar im innerkirchlichen Ringen um den rechten Glauben – nur wer wirklich versteht, dass evangelische Publizistik in allen ihren Teilen wirklich und wahrhaftig Lebensäußerung der Kirche ist, kann den Wert unserer Arbeit ermessen. Darauf sollten wir dringen – gemeinsam, arbeitsteilig, kooperativ, solidarisch, geschwisterlich und von mir aus auch streitbar. Gleichsam aber als Gemeinschaftswerk. Wenn das gelingt, ist mir um die Zukunft unserer Publizistik, unserer Kirche und mithin unserer Kultur nicht bange!