Es ist der 11. März 2012. Wie so häufig vor Beginn des Sonntagsgottesdienstes hilft Emmanuel Ndat den meist jugendlichen Pfadfindern bei der Kontrolle der Gottesdienstbesucher. Es ist eine traurige Vorsichtsmaßnahme, die in Nigeria aber notwendig ist. Denn immer wieder verübt die Terrororganisation Boko Haram vor allem im Norden des Landes Selbstmordanschläge – und Kirchen sind seit Jahren neben Polizeistationen, Regierungsgebäuden und lokalen Märkten ein beliebtes Anschlagsziel. Die Fundamentalisten ermorden Christen und Muslime gleichermaßen – es trifft alle, die ihrer Version eines Gottesstaates mit Scharia-Gesetzen im Weg stehen. An diesem Sonntag hört Ndat einen Streit am Zufahrtstor zum Kirchplatz. Der Fahrer verweigert sich der Kontrolle. Als Ndat hinzukommt und helfen will, zündet der Fahrer die Bombe. Die Explosion reißt das Auto in zwei Stücke, der Motorblock wird in Richtung der Kirche geschleudert und lässt die Kirchenfenster bersten. Dutzende werden verletzt und 14 Menschen sterben – darunter ein achtjähriger Junge, eine schwangere Frau und Emmanuel Ndat. Für seine Ehefrau Regina ist seitdem nichts mehr, wie es war. "Sie sagen uns, wir müssten vergeben und ich möchte es ja auch. Doch was ist, wenn sie wieder morden? Was ist dann?", fragt sie sich.
Für Regina Ndat in Nigeria und für Millionen andere Menschen aller Religionen weltweit ist "Religionsfreiheit" nur ein Wort, vielleicht noch etwas, wovon sie manchmal heimlich, still und leise träumen. Dabei ist Religions- und Weltanschauungsfreiheit auch ein Recht. In der Präambel und in Artikel 18 der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" wird diese Freiheit explizit angesprochen. Und weil diese Erklärung nicht unmittelbar rechtsverbindlich ist, wurde dieser Aspekt im Jahr 1966 im "Internationalen Pakt über bürgerlich-politische Rechte (IPbpR, auch Zivilpakt)" festgehalten. Und der wurde von 169 der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ratifiziert und ist somit rechtsverbindlich. Eigentlich sollte die Religionsfreiheit also in 169 Staaten für alle Menschen gesichert sein. Aber auch nur eigentlich. Denn dass dieses Recht weltweit mit Füßen getreten wird, macht der "Ökumenische Bericht zur Religionsfreiheit von Christen weltweit 2017" vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz deutlich.
Zwar verzichtet der Bericht weitgehend auf die Nennung konkreter Zahlen, "da hierfür ein weitaus komplexeres Instrumentarium notwendig wäre, als bislang von unterschiedlichen Organisationen oder Institutionen vorgelegt werden konnte", heißt es als Begründung, aber er stellt Analysen zum Stand der Religionsfreiheit in verschiedenen Ländern zur Verfügung und schildert kurze Einzelschicksale von Christen weltweit. Die Vermeidung der Quantifizierung hat auch noch andere Gründe: So möchten die EKD und die Bischofskonferenz den Eindruck vermeiden, als seien individuelles Leid wie beispielsweise das von Regina Ndat oder auch persönliche Unrechtserfahrungen messbar, kategorisierbar und damit vergleichbar oder gar in Konkurrenz zu den Erfahrungen anderer zu setzen. Des Weiteren machen sie darauf aufmerksam, dass die Verfolgungen häufig nicht oder nicht eindeutig religiös begründet seien, sondern häufig vielmehr entlang "überlappender religiöser, ethnischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Spannungsfelder" verlaufen.
Muster bei Verletzung von Religionsfreiheit
Gemäß einer Studie des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center werden 24 Prozent der Menschen aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen von staatlichen Akteuren auf einem hohen oder sehr hohen Level benachteiligt, unter sozialer Ausgrenzung und Benachteiligung leiden 23 Prozent der Gläubigen. Untersucht wurden weltweit 198 Länder. Der Bericht selbst verwendet die Bezeichnung "Christenverfolgung" nur sehr selten, da in den Köpfen der meisten Menschen dieser Begriff ein bestimmtes Bild hervorruft: das eines staatlichen Apparates, der Christen mit Spitzeln systematisch aufspürt und einen Verfolgungsapparat aufgebaut hat. Diese extreme Art der religiösen Verfolgung werde zum Glück nur in beziehungsweise von wenigen Staaten mit derartiger Intensität betrieben. "Die Rede von Christenverfolgung sollte für Phänomene reserviert bleiben, die deutlich über das Erleiden von Verbalattacken oder bloßen Beleidigungen hinausgehen, so verletzend sie im Einzelfall sein können." Stattdessen spreche man lieber von "Bedrängung" oder "Diskriminierung".
Prinzipiell gebe es bei Verletzungen von Religionsfreiheit drei vorherrschende Muster, so der ehemalige Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtrats, Heiner Bielefeldt. Als erstes sei da die Durchsetzung religiöser Wahrheits- und Reinheitsgebote zu nennen. Die Rechtgläubigkeit und religiöse Rechtsnormen durchzusetzen, haben sich teilweise zum Beispiel die Regierungen von Saudi-Arabien, Katar, Jemen, Iran, Sudan, Mauretanien, Somalia, Malediven, Brunei und Malaysia auf die Fahnen geschrieben. Und mit der Rechtfertigung dieses Anspruchs beschneiden sie die Religionsfreiheit aller anderen Menschen. In Pakistan wurde zum Beispiel die Christin Asia Bibi wegen angeblicher Blasphemie 2009 zum Tode verurteilt, eine im Oktober 2016 vorgesehene Verhandlung über die Berufung gegen das Urteil wurde kurzfristig abgesagt. Aus dem Gefängnis schreib sie: "Ich bin Christin und ich glaube an einen Gott, und jeder sollte die Freiheit haben, an den Gott zu glauben, an den er glauben möchte. Ich verstehe nicht, warum Menschen die Religion nutzen, um Böses zu tun."
Im nicht-staatlichen Bereich erheben unter anderem der sogenannte Islamischen Staat/Daesh in Syrien und Irak, Boko Haram in Nigeria oder auch Al Shabaab in Somalia Anspruch darauf, die Rechtgläubigkeit durchzusetzen. Aufgrund langfristiger Trends und der Auswirkungen der Terrorherrschaft des IS drohe in einigen Ländern des Nahen Ostens zum Beispiel ein Ende der christlichen Präsenz. Auch in einigen anderen Ländern Subsahara-Afrikas sind Christen extrem gefährdet, Opfer vorwiegend islamischer Gewalttäter zu werden.
Als zweites Muster lasse sich laut Bielefeldt die "Aufrechterhaltung einer durch religiös-kulturelles Erbe definierten nationalen Identität" identifizieren. Während erstes Phänomen überwiegend in islamisch orientierten Staaten zu beobachten sei, ziehe sich letzteres durch alle Regionen der Erde. Dabei verlaufe die Spannungslinie nicht - wie offiziell propagiert - zwischen Glaube und Unglaube ab, sondern zwischen nationaler Zugehörigkeit und dem zum Fremden Erklärtem. "Ein oft lediglich imaginiertes homogenes national-religiöses Erbe wird beschworen und mit repressiven Maßnahmen auf dessen Herstellung hingearbeitet. Es wird zwischen der vermeintlich traditionellen, im Land seit Langem ansässigen Religion und 'fremden', später aus anderen Regionen hinzugekommenen, Religionen unterschieden", so der Bericht. Das zeigt sich auch daran, dass unter diesem Motiv Gläubige aller Religionen potentiell zu Unterdrückern oder Unterdrückten werden können. Sei es im buddhistisch dominierten Myanmar, das die muslimischen Rohingya und die mehrheitlich christliche Ethnie der Karen systematisch unterdrücke, sei es in Sri Lanka, Indien oder Russland. Dort habe Präsident Wladimir Putin die russisch-orthodoxe Kirche zu einem "Pfeiler des russischen Nationalbewusstseins" erhoben.
Als drittes Muster für Verletzungen der Religionsfreiheit gilt Bielefeldt zufolge die Angst vor Kontrollverlust von autoritären Regierungen. Da Religionsfreiheit auch immer mir Freiheitsrechten wie Meinungs-, Versammlungs-, und Vereinigungsfreiheit zusammenhänge, lehnen es viele autoritäre Regime ab. "Religionsfreiheit wird sozusagen als Einflugschneise für subversive, staatsgefährdende Aktivitäten gesehen. Die strenge Überwachung von Religionsgemeinschaften oder auch die Infiltration des religiösen Gemeindelebens sind die Antworten autoritärer Regime auf diese Bedrohung." In diesen Bereich fällt die Politik von Staaten wie China, Vietnam, Laos, Nordkorea, aber auch den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. So steht beispielweise in Weißrussland die römisch-katholische Kirche unter Beobachtung, da ihr zahlreiche Mitglieder der polnischen Minderheit angehören.
Mit dem "Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit von Christen weltweit" möchten der Rat der EKD und die Bischofskonferenz ausdrücklich "nicht nur ihre Solidarität mit den christlichen Schwestern und Brüdern" ausdrücken, "sondern mit allen Menschen, die wegen ihrer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung verfolgt und benachteiligt werden". Im Vorwort stellen der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, fest, dass das Engagement der Kirchen allen Menschen gelten müsse und nicht nur denen der eigenen Religion, da der Grundsatz, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und zur Freiheit berufen habe, ein wichtiger Bestandteil des christlichen Glaubens sei. "Die Religionsfreiheit ist von fundamentaler Bedeutung, weil die Religion nicht einen Einzelaspekt im Leben eines Menschen betrifft, sondern sein Selbstverständnis und seine Identität", schreiben Bedford-Strohm und Marx und führen weiter aus: "dass an der Verwirklichung der Religionsfreiheit in aller Regel ablesbar ist, wie es in einem Land um die Freiheitsrechte insgesamt bestellt ist". Denn die Verletzung dieses Rechts sei oft Teil einer ganzen Reihe von Angriffen auf die Menschenwürde und man könne das Recht auf Religionsfreiheit häufig gar nicht wirksam einfordern, ohne nicht auch andere Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren. Außerdem ließe sich auch ein weiteres Muster ableiten, auf das bereits in der ersten Studie aus dem Jahr 2013 hingewiesen wurde: "Wo Christen verfolgt werden, sind in aller Regel auch viele andere betroffen."