Grimme-Preisträgerin Dorothee Schön ("Der letzte schöne Tag") hat kürzlich bereits mit "Der Polizist, das Kind und der Mord" ein Drehbuch voller Feingefühl über die Freundschaft zwischen einem Erwachsenen und einem Jungen geschrieben. Darum geht es auch in "Kästner und der kleine Dienstag", erneut nach wahren Begebenheiten, aber diesmal unter völlig anderen Vorzeichen.
Die Handlung beginnt mit einem feuchtfröhlichen Abend und einer typischen Szene der späten Zwanzigerjahre. Die Stimmung ist ausgelassen, den Damen hüpft der Busen aus dem Dekolletee; die Menschen haben keine Ahnung, dass sie auf einem Vulkan tanzen. Der Dichter und Schriftsteller Erich Kästner (Florian David Fitz) ist ein Liebling der Intellektuellenszene; und außerdem ein Schürzenjäger. Selbst kinderlos, hat er mit "Emil und die Detektive" sein erstes Kinderbuch geschrieben. Der elfjährige Hans wird erst zu seinem größten Fan und dann zu einem guten Freund. Der Junge spielt in der Verfilmung des Romans den "kleinen Dienstag" und ist Geburtshelfer bei "Pünktchen und Anton" und "Das doppelte Lottchen". Aber dann ist die ausgelassene Zeit der Unbefangenheit vorbei; auf den Straßen macht sich der braune Mob breit. Hans’ Schwester wird ein Hitler-Mädel, der Frisiersalon seines "gemischtrassigen" Freundes Wolfi Stern wird immer öfter das Ziel antisemitischer Schikanen, und Kästner, der Hans als Widmung "Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es" in ein Buch geschrieben hat, steht tatenlos daneben, als sein Roman "Fabian" verbrannt wird. Später bekommt er Schreibverbot und bricht dem Jungen das Herz, als er die Freundschaft beendet, um ihn nicht zu gefährden. Jahre später treffen sie sich wieder. Mittlerweile haben Hitlers Horden Polen überfallen, und Hans ereilt jenes Schicksal, das sein widerlicher Nazi-Lehrer (Arnfried Lerche) als glorreich angepriesen hat: Er muss in den Krieg.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Natürlich ist "Kästner und der kleine Dienstag" ein Film über das "Dritte Reich"; aber eben nicht in erster Linie, auch wenn die Zeitläufte dafür sorgen, dass die Freundschaft ganz speziellen Belastungen ausgesetzt ist. Die politische Dimension hat Schön vor allem über gute Dialoge integriert: Weil Hans von seiner Mutter (Katharina Lorenz) bloß zu hören bekommt, Politik sei nichts für Kinder, wendet er sich mit seinen entsprechenden Fragen an seinen großen Freund. Kästner, der nach eigenem Bekunden mit Kindern nicht viel anfangen kann, gibt ihm Antworten, die auf gleich drei Ebenen funktionieren: Innerhalb des Films erklären sie Hans die Lage und zeigen ihm, dass der Dichter ihn ernst nimmt. Außerdem sorgen sie für einen Bezug zur Gegenwart: Die Ausführungen könnten auch auf die heutige Zeit gemünzt sein.
All’ das funktioniert aber nur, weil der junge Nico Ramon Kleemann, ein sympathischer Lockenkopf, der förmlich von innen leuchtet, seine Sache formidabel macht und auch schwierige Dialoge jederzeit überzeugend vorträgt. Das gleiche Lob gebührt Jascha Baum. Der ältere Hans ist zwar die kleinere Rolle, aber ebenfalls famos gespielt. Gerade auch dank der Schauspieler kann Murnberger das anspruchsvolle historische Drama über weite Strecken mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und immer wieder verblüffend humorvoll erzählen; auch wenn irgendwann der Zeitpunkt kommt, da die tragische Entwicklung der Geschichte keine Scherze mehr erlaubt. Eine Einstellung genügt, um die ganze Tragweite zu verdeutlichen: Nach und nach werden alle Jungs aus Hans’ Klasse zu Geistern.