Das ist eine spannende Geschichte, keine Frage, zumal das Drehbuch von Grimme-Preisträgerin Hannah Hollinger ("Grenzgang") mit einer Vielzahl unterwarteter Wendungen überrascht; aber über 180 Minuten trägt sie nicht. Das Konzept ist allerdings hochinteressant, weil die Handlung immer größere Kreise zieht, um am Ende wieder beim Ausgangspunkt zu landen.
Zunächst gibt es jedoch keinen Grund, an einer Entführung des gerade mal ein Jahr alten Babys zu zweifeln. Nachdem Nora (Petra Schmidt-Schaller) von ihrer Freundin und Kollegin Pia (Pegah Ferydoni) wieder zusammengeflickt worden ist, schleppt sie sich aus dem Krankenhaus. Ihr vermögender Schwiegervater (Hanns Zischler) hat eine Lösegeldforderung bekommen; die Kidnapper wollen zwei Millionen. Der Brief endet mit den Sätzen "Keine Polizei. Keine zweite Chance." Auf Anraten ihres Freunds und Anwalts Leo (Sebastian Bezzel) hat Nora trotzdem das ermittelnde LKA-Duo Bäumler und Leyen (Inez Bjørg David, André Szymanski) informiert. Weil sie mehrfach U- und S-Bahn wechseln musste, hat die Polizei sie aus den Augen verloren; die Entführer hauen mit dem Geld ab, das Kind bleibt verschwunden. Die einzige Spur führt in eine Sackgasse: Offenbar ist Noras drogenabhängige Schwester (Jasna Fritzi Bauer) in die Sache verwickelt, aber die Polizei findet nur ihre Leiche. Ein Jahr später gibt es eine neue Forderung, wieder zwei Millionen, aber diesmal ist Nora vorbereitet: Ihr Ex-Freund Robert (Murathan Muslu), ein ehemaliger BKA-Beamter, legt sich am Übergabeort auf die Lauer; aber wieder sind die Kidnapper clever. Immerhin findet Nora mit Roberts Hilfe raus, dass ein Anwalt (Max Hopp) Kinder an adoptionswillige europäische Paare verkauft. Als der Mann erschossen wird, scheinen sich sämtliche Hoffnungen Noras, Jella je wiederzusehen, in Luft aufzulösen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Keine zweite Chance" basiert auf dem gleichnamigen Roman des amerikanischen Krimischriftstellers Harlan Coben. Die vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit Erfolgsregisseur Matti Geschonneck bekannte Hollinger hat sich in den Grundzügen an die Vorlage gehalten, aber ein entscheidendes Detail verändert: Im Buch stirbt nicht der Mann, sondern die Frau; Hilfe bekommt er von seiner früheren Freundin, einer FBI-Agentin. Ansonsten hat die Autorin die komplexe Geschichte plausibel auf deutsche Verhältnisse übertragen. Trotzdem hat der Film gewisse Längen; selbst die Einführung immer wieder neuer Figuren kann nicht verhindern, dass 180 Minuten einfach zu lang sind. Regie führte Alexander Dierbach ("Tannbach"), der zuletzt gleich vier nicht nur sehenswerte, sondern zum Teil herausragend gute Episoden für die Reihe "Helen Dorn" inszeniert hat. Während die ZDF-Krimis jedoch nicht nur über eine sehr präsente Hauptdarstellerin, sondern auch über eine starke Hauptfigur verfügen, lebt "Keine zweite Chance" vor allem von Petra Schmidt-Schaller und weniger von der Rolle, die sie verkörpert.
Der Film beginnt mit einer ungewöhnlichen Parallelmontage: Während Nora ins Krankenhaus eingeliefert wird, gibt es kurze Erinnerungsmomente an die Ereignisse dieses Morgens, als wie aus dem Nichts plötzlich Schüsse fallen. Bauen sich Sympathie und Identifikationsbereitschaft normalerweise über Persönlichkeit, Charaktereigenschaften oder ein bestimmtes Verhalten auf, sorgt hier in erster Linie Noras Schicksal für Empathie; und natürlich die Hauptdarstellerin. Diese Vorgehensweise birgt den Nachteil, dass die Anteilnahme nachlässt, wenn die Figur auf die Facette der verzweifelten Mutter beschränkt bleibt. Daran ändert auch das Auftauchen Roberts nichts; der im deutschen Fernsehfilm viel zu selten besetzte Wiener Murathan Muslu ist zwar ein charismatischer Schauspieler, aber die Beziehung zwischen Nora und dem ehemaligen BKA-Mann bleibt bloße Behauptung, weil zwischen den beiden nichts passiert. Ein gleichfalls nur potenziell prickelndes Paar sind die beiden Polizisten, die jedoch allzu sehr aufs Schema guter Bulle (sie) / böser Bulle (er) reduziert werden. Die weiteren Nebenfiguren kommen kaum sogar über B-Movie-Status hinaus, allen voran die von Josefine Preuß als schießfreudige Gangsterbraut verkörperte vermeintliche Entführerin, die zudem eine Vergangenheit als früh verglühtes Popsternchen hat. Während Teil eins theoretisch auch den Anspruch eines Montagskrimis im ZDF erfüllen würde, käme Teil zwei (am 12. Dezember) mit seinen Schießereien und den diversen Toten dafür kaum noch in Frage.