Ordnung ins Chaos zu bringen und allem eine Struktur zu geben, ist vielen Menschen ein Bedürfnis. Auch – oder vielleicht gerade – in der digitalen Welt, in der die vielfach binären Codes ein klares System vorgeben: Es ist entweder eine Eins oder eine Null. Eine Struktur und eine strategische Gesamtausrichtung in das vielfältige Miteinander digitaler Bemühungen der 20 Landeskirchen und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu bringen, sieht Kirchenpräsident Volker Jung, der die Einbringung übernahm, als eine große Herausforderung in der Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Bei seiner Einbringung auf der EKD-Synode in Bonn betonte er jedoch auch die fundamentale Bedeutung einer solchen Herangehensweise: nur so könne man Arbeiten koordinieren, statt sie an verschiedenen Stellen mehrfach zu verrichten, nur so könne man Synergien nutzen und die auf die Kirche zukommenden Entwicklungen und Herausforderungen wirklich in den Blick nehmen, so Jung. "Die Digitalisierung fordert zu eingehender und interdisziplinärer Reflexion heraus und zugleich zur praktischen Um- bzw. Neuorientierung in vielen Bereichen des Lebens", sagte Jung, der zugleich Aufsichtsratsvorsitzender des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik ist.
Da wäre zum Beispiel der rasante Fortschritt im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der Robotik, durch die sowohl der Alltag der Menschen als auch die Arbeitswelt nachhaltig beeinflusst werden. Oder auch neue Diagnosetechnologien in der Medizin, das "Internet der Dinge" oder autonome Fahrsysteme – die Liste der digitalen, technischen Innovationen ließe sich beliebig lange fortführen. Wenn sich eine Organisation dann aus dem großen "Kosmos der Digitalisierung" nur auf den Teilaspekt "Kommunikation" konzentrieren würde, so wie es auf der Synode im Jahr 2014 anvisiert wurde, könnte das nicht dauerhaft gutgehen. Das will Volker Jung den Synodalen mit seiner Beschreibung der technischen Möglichkeiten vor Augen führen: dass es eben keine Frage danach ist, ob die evangelische Kirche "irgendetwas mit Digitalisierung" mitmachen möchte, weil das Konzept ganz nett ist und man vielleicht einen Nutzen daraus ziehen kann, sondern dass sie sich diesen Herausforderung stellen muss, um relevant zu bleiben und evangelische Denkansätze zu den Fragen der Zeit liefern zu können. "Die Digitalisierung ist keine Entwicklung, die sich aufhalten lässt. Sie hat längst unser Leben verändert und sie wird weiter unser Leben verändern", sagt Jung.
Denn während der digitale Wandel oft mit Hoffnung verbunden ist, bleibt in vielen Fällen auch die Angst zurück: vor dem Verlust von Arbeitsplätzen oder auch von der Übernahme der Welt durch Maschinen. Bieten die Entwicklungen der Digitalisierung nun hilfreiche Anwendungen oder ein Horrorszenario? Eine Antwort hat Volker Jung auf diese Frage nicht, aber er zieht daraus eine Erkenntnis: "Auf der Hand liegt allerdings, dass mit diesen Fragen auf jeden Fall Grundfragen unseres Zusammenlebens, des Welt- und Menschenbildes verbunden sind." Und dass das Themen sind, bei denen die evangelische Kirche eine Stimme und eine Position haben sollte, ist eigentlich unbestritten.
Angelehnt an Friedrich Nietzsches "Zarathustra", sagt Kirchenpräsident Jung: "Es ist höchste Zeit, dass wir uns intensiver mit den Fragen der Digitalisierung beschäftigen." Dabei sieht er drei große Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt: erstens müsse man die digitale Weiterentwicklung in den kirchlichen und diakonischen Organisationen besonders im Hinblick auf die Partizipations- und Entscheidungsprozesse vorantreiben. Zweitens müsse man im Digitalen einen Weg finden, um mit den Kirchenmitgliedern und Interessierten zu kommunizieren, ohne dabei zeitgleich Probleme des Datenschutzes oder Probleme in der Zusammenarbeit mit Konzernen wie Facebook oder Google zu ignorieren. Drittens müsse man die digitale Transformation der Gesellschaft theologisch, kritisch begleiten, denn es sei nicht sicher, dass mit den Veränderungen weltweit mehr Gerechtigkeit erreicht werde. Ganz im Gegenteil: "Wenn Menschen durch Maschinen ersetzt werden, führt das nicht nur zu einer Umstrukturierung der Arbeitswelt", so Kirchenpräsident Jung, " sondern auch zu Kränkungen und Akzeptanzfragen". An dieser Stelle könne die Kirche einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen nicht in neue Abhängigkeiten gerieten, sondern tatsächlich Freiheit gewännen, dass keine neuen verteilungskämpfe entstünden, sondern die Welt friedlicher und gerechter werde. Jung wünscht sich, dass die Kirche in all diesen Debatten mitdenkt, mitredet, von anderen lernt und sich selbst einbringt. Das verlange jedoch Jung zufolge aufgrund der hohen Geschwindigkeit und der Dynamik, mit der die Digitalisierung voranschreitet, dass auch die Kirche selbst experimenteller arbeitet und das Scheitern nicht mehr als Schande, sondern als Lernprozess betrachtet.
Um die Herausforderungen zu meistern, die Jung beschrieben hat, fordert er die Einsetzung eines "Projektteams", das ein dreiviertel Jahr mit Unterstützung aus der Wissenschaft und anderen Quellen ein Konzept zum Umgang mit den Herausforderungen des digitalen Wandels erarbeiten soll. Dafür ist in dem Antrag ein Budget von 50.000 bis 100.000 Euro veranschlagt. Das Ergebnis dieser Beratungen soll dann auf der Synode 2018 dem Plenum präsentiert werden.
"System Wikipedia" statt "System Google"
Nach Jungs Einbringung folgten die Anträge aus dem Zukunftsausschuss, die inhaltlich in vielen Positionen mit Volker Jung übereinstimmen oder sie ergänzen. So berichtet Gesche Joost, Leiterin des Design Research Lab, dass die Kirche in vielen, die Digitalisierung betreffenden Debatten und Dialoge derzeit noch keine Stimme habe, weil keine Theologen in Start-ups, Think Tanks oder andere Projekte aus diesem Bereich involviert seien. Dabei sei das bitter nötig: die Digitalisierung halte der Gesellschaft einen Spiegel vor und reflektiere dadurch auch die schlimmsten Entwicklungen. "Im Augenblick überfordert uns das vielleicht noch und wir wissen nicht so genau, wie wir damit umgehen sollen", so Joost, "doch wenn wir nichts tun, geht’s so weit". Und das "und wird womöglich noch schlimmer" hängt ausgesprochen im Raum.
Der Jugenddelegierte Ingo Dachwitz verweist in seinem Beitrag zur Diskussion darauf, welche Möglichkeiten die Digitalisierung für einen Grundstein der evangelischen Kirche bieten könne. Durch die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten könne "das dichotome kirchliche Kommunikationsmodell von Sender und Empfänger" aufgebrochen und das Priestertum aller Gläubigen realisiert werden. Es wäre nicht mehr das "System Google", bei dem der Gläubige fragt und die allwissende Mutter Kirche antwortet, sondern eher das "System Wikipedia", das offen ist für alle, die sich einbringen wollen, das unterschiedliche Perspektiven in ein produktives Gespräch bringt und bei dem jeder einen kleinen Teil für den Erfolg des großen Ganzen leistet.
Drei Kernthemen der Digitalisierung
"Weitblick beweisen, um nicht zu spät zu kommen, sondern um Botschaften frühzeitig zu kommunizieren", fordert die Jugenddelegierte und angehende Physikerin Elisabeth Schwarz. Die Positionierung zu ethischen Fragen in der Digitalisierung dürfe nicht verpasst werden. Und Rüdiger Sachau von der Evangelischen Akademie in Berlin fasst die drei Kernpunkte des Antrags aus dem Zukunftsausschuss zusammen: Erstens müsse man alle Beteiligten miteinander vernetzen und auf einer offenen Plattform ins Gespräch bringen. Zweitens müsse man an der Digitalstrategie der EKD arbeiten, die jedoch niemals statisch sein dürfe, sondern im ständigen Wissensfortschritt weiterreflektiert werden müsse. Und drittens müsse man die Umsetzung begleiten und dazu Bericht erstatten.
In der anschließenden Plenumsdiskussion, die die meisten Wortmeldungen der bisherigen Synode zu verzeichnen hat, traten dann drei Kernthemen zum Vorschein, die die Synodalen beschäftigen: Der konkrete Mehrwert für die Landeskirchen und Gemeinden, die Ethik der Digitalisierung und der Umgang mit den dadurch verursachten Veränderungen.
Pastor Michael Stahl von der Nordkirche ist es besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Diskussionen nicht nur auf EKD-Ebene, sondern auch auf der Ebene der Landeskirchen geführt werden müssen. Er fordert die Landeskirchen auf, sich "endlich mal zu koordinieren und zusammenzuarbeiten". Das erfordert laut Friedemann Kuttler aber "neu denken zu lernen", denn aus gener Erfahrung in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg weiß er: "Projektstrukturen funktionieren in den landeskirchlichen Strukturen während der Digitalisierung nicht."
Kuttler weist außerdem auf ein wichtiges Problem hin, das bei all der Euphorie für die digitale Weiterentwicklung der Kirche nicht ignoriert werden darf: die Teilhabe all jener, die nicht digital sind, die sich vielleicht sogar gerade durch die Digitalisierung abgehängt fühlen. Daraus könne schnell ein innerkirchliches Problem werden, das sogar zur Spaltung in eine digitale und eine nicht-digitale Kirche führen könnte.
Keine Serviceorientierung bei der Kirche?
Grundlegende Kritik äußert der Synodale Carsten Simmer: Die Strukturen seien wieder sehr institutionell gedacht, statt nachfrageorientiert. Da muss ein Umdenken stattfinden. Denn im Augenblick ist der Status Quo vielerorts: Statt die Gemeindemitglieder und Kirchengemeinden zu fragen, welche Probleme sie haben und dafür eine digitale Lösung anzubieten, entwickelt man ein sehr binnenkirchliches Angebot, für das man dann Nutzer sucht.
Für viele Synodale war es wichtig, den Anspruch der Kirche als wichtiger und ernstzunehmender Player im ethischen Digitalisierungsdiskurs zu unterstreichen, da es ihnen in den Einbringungen zu wenig Beachtung gefunden zu haben schien. Bischof Martin Hein von der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck verwies explizit darauf, dass sich nicht nur – wie von Volker Jung erwähnt – das Menschenbild durch die Technologie verändern könne, sondern auch das Gottesbild. "Und das ist eine Kernfrage theologischen Nachdenkens", so Bischof Hein. Auch Pfarrer Steffen Kern hatte den Eindruck, dass theologische Fragen zumeist "etwas einseitig fokussiert" worden seien und aus seiner Sicht ist auch eine Fülle theologischer Fragen unbeantwortet geblieben, deren behutsame Beantwortung eigentlich mitberücksichtigt werden müsse.
Die Synodalen Detlef Klahr und Ulrike Bänsch fordern im Hinblick auf die fehlenden theologischen Stimmen im Digitalisierungsdiskurs, man möge doch durch Stipendien, Promotionen oder auch auf andere Weise das Zusammenbringen dieser beiden Bereiche fördern.
Monika Astrid Kittler und Michael Diener sehen in der Digitalisierung auch einen großen Arbeitsplatzvernichter und sorgen sich darum, wie die evangelische Kirche diesen Tatsachen mit, laut Diener, "evangelischem Profil" begegnen werde. Werde auch die Kirche aus Kostengründen Menschen durch Maschinen ersetzen und welche Haltung werde die Kirche einnehmen – das sind Fragen, die Kittler umtreiben.
Auch Kirchenpräsident Volker Jung sieht große Umstellungsprozesse auf die Kirche zukommen, die "einzelne überfordert, weshalb es alle braucht". Jedoch sei die Digitalisierung auch eine Chance für das Zusammenspiel von Gliedkirchen und der EKD. Jetzt müsse man erstmal ein Konzept erarbeiten, wie man am besten vernetzt arbeitet. Zentraler Gedanke aller Überlegungen zur Digitalisierung müsse aber sein: Was brauchen die Kirchengemeinden, was brauchen die Menschen wirklich von uns? Eine Antwort ist die Diskussion jedoch schuldig geblieben. Das wird jetzt die Aufgabe für 2018 sein.