Bei Romanzen funktioniert das in der Regel über das Gegenüber, also die Person, der die Emotionen gelten; bei Religionsfilmen muss aus naheliegenden Gründen ein anderer Weg gefunden werden. In letzter Zeit gab es einige Krimis über junge Menschen ohne inneren Kompass, deren Leben einen Sinn bekommt, als sie den Islam entdecken, sich radikalisieren (oder radikalisiert werden) und sich dem "Islamischen Staat" anschließen. Diese Filme, allen voran zwei "Tatort"-Beiträge des NDR ("Borowski und das verlorene Mädchen" und "Zorn Gottes", beide 2016), waren zwar spannend, aber es gelang ihnen nicht, die Motive der Konvertiten nachvollziehbar darzustellen. Das ist auch das Manko des Zweiteilers "Brüder": Als wäre ein Schalter umgelegt worden, ist der junge Protagonist, Informatikstudent Jan, plötzlich gläubig. Der salafistische Prediger Abadin, der ihn bekehrt, ist ein überaus charismatischer Typ (Tamer Yigit erinnert an den jungen Mario Adorf), sodass zumindest nachvollzogen werden kann, warum Jan von diesem Menschenfänger so fasziniert ist. Aber wie aus Abadins Samenkorn eine derart robuste Pflanze entsteht, dass Jan sogar bereit ist, alle Brücken hinter sich abzubrechen und für den "IS" in den Krieg gegen zu ziehen: Das vermittelt Züli Aladag mit seinem Film nicht. Genau das wäre jedoch die Voraussetzung, um sich mit Jan zu identifizieren. So ist der angeklebte Bart im Gesicht des ansonsten sehr glaubwürdigen Hauptdarstellers Edin Hasanovic ein treffendes Bild für die behauptete, aber unbelegte Erleuchtung.
Davon abgesehen ist "Brüder" das packende Porträt eines impulsiven jungen Mannes, den der Film nicht sonderlich sympathisch einführt: mit lieblosem Sex auf dem Discoklo, einem unhöflichen Abschied von der Zufallsbekanntschaft und totgeschlagener Zeit bei lautstarkem Techno und Videoballerspiel. Jan hat keinen Respekt vor seiner Mutter (Karoline Eichhorn), und ein Besuch bei seinem Vater Rainer (Thorsten Merten) endet mit einem Mordversuch; aber vielleicht ist das auch nur eine Vision von Jan, denn geraume Zeit später wird Rainer den Sohn bei sich aufnehmen, als sei nichts geschehen. Zwischen diesen beiden Momenten liegen zehn Monate, in denen sich das Leben des Studenten zweimal um 180 Grad gedreht hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Kristin Derfler hatte die Idee zu "Brüder" und auch eine Drehbuchvorlage geschrieben. Die bisherigen Verfilmungen ihrer Arbeiten, zuletzt das Gen-Defekt-Drama "Ellas Entscheidung", zuvor unter anderem "Es ist nicht vorbei" und "Mama arbeitet wieder", ließen nie einen Zweifel an den Motiven und Gefühlen ihrer meist weiblichen Hauptfiguren. In der Umsetzung durch Ko-Autor Aladag aber bleibt Jan ein Fremder, ganz anders als zum Beispiel der Familienvater in Aladags Grimme-preisgekrönten Film "Wut", der sich gegen den Terror eines türkischstämmigen Jugendlichen wehrt; aber womöglich wollte der Regisseur auch vermeiden, dass "Brüder" als "IS"-Werbung missverstanden wird. Dass das Drama dennoch auch über 180 Minuten fesselt, liegt am quasidokumentarischen Charakter der Geschichte: Jan ist gewissermaßen der prototypische Repräsentant einer Vielzahl junger Westeuropäer, die sich in den letzten Jahren dem "IS" angeschlossen haben.
Die ARD zeigt beide Teile hintereinander. Um 23.45 Uhr folgt die Dokumentation "Sebastian wird Salafist" über einen jungen Deutschen, der Ähnliches erlebt hat wie die Hauptfigur des Fernsehfilms, wenn auch ohne Kriegserlebnisse.