Dieser Bruch mit den Erwartungen erklärt wohl auch die eigentlich überflüssige Einführung durch Kommissarin Janeke. Zartbesaitete Zuschauer können ihre Frage "Glauben Sie an Geister?" durchaus als Warnung verstehen, denn Regisseur Andy Fetscher zieht alle Register des Genres. Anfangs ist das noch harmlos, aber die geisterhaften Schritte auf dem Speicher und der von allein schaukelnde Schaukelstuhl sind bloß ein Vorgeschmack; später sorgen Licht, Musik und Geräusche für einige Schockeffekte, die durchaus Gänsehautdimension haben. Während Erwachsene mit kindlicher Freude an Geisterbahnen und entsprechender Angstlust also auf ihre Kosten kommen, wird es unter Garantie Stimmen geben, die diesen "Tatort" lieber erst zu späterer Sendezeit im Fernsehen sähen, und da ist durchaus was dran: Unter anderem treibt ein echter Geist sein Unwesen, der zudem nicht sonderlich hübsch anzuschauen ist, und mehrfach geraten Kinder in größte Not.
Andererseits sprechen diese Vorbehalte natürlich für die Qualität der Inszenierung. Frühere Versuche, einen Kompromiss zwischen dem Jugendschutz und den Merkmalen des Horrorfilms zu finden, sind oft missglückt, weil Freunde des Genres die Ergebnisse zwar ebenfalls zum Fürchten fanden, aber aus anderen Gründen, als die Macher dies im Sinn hatten. Für einen öffentlich-rechtlichen Fernsehfilm aber lotet Fetscher, der zum ersten Mal 2011 mit dem Hauptstadthorror "Urban Explorer" positiv auf sich aufmerksam gemacht hat, die Grenzen konsequent aus; als "Tatort" ist seine Arbeit ohnehin äußerst ungewöhnlich und ein weiterer Beleg für die Lust der Fernsehfilmredaktion des Hessischen Rundfunks, das Spektrum des Sonntagskrimis um neue Facetten zu bereichern.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Fetscher erzählt in "Fürchte dich" eine klassische Horrorgeschichte: In einem früheren Waisenhaus treibt die vor fünfzig Jahren unter tragischen Umständen gestorbene Heimleiterin immer noch ihr Unwesen. Die Kinder hatten ihr damals einen vermeintlich harmlosen Streich gespielt, der sie das Leben kostete. Sie hinterließ einen Sohn, Otto, mittlerweile ein alter Mann (Axel Werner). Der Film beginnt mit seinem Versuch, das ehemalige Kinderheim in Brand zu stecken; später entpuppt er sich als tragischer Held der Geschichte. Heute gehört das alte Haus Fanny (Zazie de Paris), der Vermieterin von Hauptkommissar Brix (Wolfram Koch), und der will der Sache natürlich auf den Grund gehen. Als er unter den Bodenbrettern des Dachbodens ein Kinderskelett findet, ist sein Spürsinn geweckt. Ein Rechtsmediziner stellt fest, dass es sich um die sterblichen Überreste eines kleinen Mädchens handelt, das offenbar erstickt worden ist. Mittlerweile hat der Geist der einstigen Heimleiterin Besitz von Fanny ergriffen, und Brix ahnt, dass er dem Spuk nur ein Ende bereiten kann, indem er den Mord an dem Kind aufklärt. Des Weiteren wirken noch ein guter und ein böser Zwilling mit, außerdem treibt ein Kinderschänder sein Unwesen.
Die völlig unironisch dargebotene Handlung mag dem üblichen Schema solcher Filme gehorchen, aber der Reiz besteht nicht zuletzt in der Kombination des Genres mit dem Personal des "Tatorts" aus Frankfurt. Die letzten Worte des alten Mannes waren "Tu ihr nicht weh". Sie galten seiner Enkelin Merle (Luise Befort), und als Brix rausfindet, dass Otto als Kind dem Geist seiner Mutter regelmäßig Opfergaben gebracht hat, wird ihm klar, dass Merle in großer Gefahr schwebt. Derweil hütet seine Kollegin Janneke (Margarita Broich) das Spukhaus und muss sich der besessenen Fanny erwehren.
Für die beiden Hauptdarsteller war "Fürchte dich" sicher eine interessante Erfahrung, und vermutlich hat’s ihnen Spaß gemacht, ihren Figuren mal völlig neue Facetten abzugewinnen; als alten Hasen wird ihnen das auch nicht schwergefallen sein. Luise Befort stößt dagegen an ihre Grenzen, weil sie mimisch mitunter über jenen Punkt hinausschießt, an dem Darbietungen dieser Art die Schwelle zur unfreiwilligen Komik überschreiten; erst recht im Vergleich mit den erfahrenen Kollegen, zumal sich Margarita Broich und Wolfram Koch durch ein eher sparsames Spiel auszeichnen. Ganz entscheidenden Anteil an der Wirkung gerade der gruseligen Szenen hat die Musik (Steven Schwalbe und Tobias Wagner), die zudem nicht digital im Tonstudio entstanden, sondern vom HR-Sinfonieorchester eingespielt worden ist. Die Untermalung, mal zart, mal wuchtig, sorgt dafür, dass viele Momente weitaus spannender sind, als es die Bilder eigentlich hergeben.