Die Babelsche Gemeinde

Foto: Sabine Oberpriller
Die Babelsche Gemeinde
Zu Besuch in der indonesischen Kirchengemeinde Frankfurt
Indonesische Einwanderer dürften zu den stolzesten Immigranten gehören. Stolz darauf, in Deutschland leben zu können. Zugleich pflegen sie ihre Kultur. Ein heimliches Musterbeispiel dafür, wie zwei Kulturen zusammen gehen können? In der Kirchengemeinde zumindest schon.

Tenor, Bass und Sopran suchen noch das "a". Immer wieder, die Taste auf dem Klavier, "hmmmm". Nochmal. "hmmmm". Priska, die junge Chorleiterin mit dunklen Augen und bunter Halskette, singt die Töne mit. Letzte Chormitglieder rutschen noch in die Reihen - eine ganz normale Chorproben, so scheint es. Aber spätestens die raschelnd hervor gekramten Notenblätter verraten: Dieser Chor hat indonesische Wurzeln. Von Klecksen mit Stiel auf sechs Linien, wie Europäer ihre Noten mittlerweile kennen, ist nichts zu sehen. Stattdessen waagrechte Striche, Punkte und die Nummern Null bis Sieben. Jetzt stellt sich auch heraus, dass die Tonfolgen gar keine beliebigen Silben zum Aufwärmen der Stimme sind. Ra - Ba - Sa - Das ist Batak. Eine von dreihundert indonesischen Sprachen, die sich aus ungekünstelten Silben zusammensetzt. Integrativ ist sie jedenfalls: Gesungen wird, was da steht. Das können auch deutsche Besucher. Das Notensystem ist übrigens europäischer als gedacht - frühe Kirchenchoräle wurden auch so aufgeschrieben.

So hätte die Geschichte weiter gehen sollen. Ein Besuch beim Chor der indonesischen Kirchengemeinde in Frankfurt, der Jemaat Kristus Indonesia Rhein-Main. Was singt der Chor, wie spielt er zusammen und was sagen die Chormitglieder über ihre Herkunft, über die Gemeinde, über Deutschland, über den Glauben. Eigentlich. Denn während der Chor den Einsatz probt ("Die zweite Stimme setzt vor Hallelujah ein, beim "ou"", sagt Priska in weichem Indonesisch), begrüßen im Foyer des Gemeindezentrums der Paulskirche ein Blumenstrauß und Papierblüten auf einem Spiegeltablett die Besucher in "Indonesien", wo alle älteren "Onkel" und "Tante" gerufen werden, ob verwandt oder nicht. Zierliche Tanten in geblümten und geschnörkelten, hellbunten Oberteilen schleppen Kuchen in den Saal und einen grünen Kürbis von der Größe einer mittleren Abrissbirne. Wovon das Lied handelt, das der Chor da gerade singt? "Keine Ahnung", sagt der Onkel vom Bass. "Ich spreche Javanisch." Jens, der Gemeindevorstand im geblümten Hemd, weiß es auch nicht. Er spricht fließend Deutsch, Indonesisch so bruchstückhaft - sagt er - dass er es lieber lässt.

Interkultureller Dialog in alle Richtungen

Es gibt wohl kaum Einwanderer, die so stolz darauf sind, in Deutschland leben zu können, wie die Indonesier. Deshalb heißt der 41-jährige Jens Jens, sein Bruder Gerhard und sein jüngerer Cousin Helmut, obwohl in der Generation seiner Eltern alle eher Pudji (Pudschi) oder Tinur heißen. Und es gibt kaum Einwanderer, die so elegant und dezent ihr Indonesisch-Sein weiterzelebrieren. Sonntags, in einer Mixtur aus Deutsch und den rund zehn in der Gemeinde gesprochenen indonesischen Sprachen. Zwei Herzen wohnen in ihrer Brust, aber ganz ohne "ach", wie bei Goethe. Sie sind der personifizierte interkulturelle Dialog. Den leben sie auch in alle Richtungen: Mit Deutschen, Flüchtlingen, Obdachlosen, Muslimen - besonders den indonesischen.

Tinur, 68, die den Frauenkreis leitet, sagt: "Ich habe zwei Heimaten. Indonesien wird nie aufhören, mein Ursprung zu sein. Aber jetzt habe ich länger in Deutschland gelebt, als in Indonesien. Deutschland ist genauso meine Heimat." Einmal, als sie ihre Eltern einige Wochen lang besucht hatte, rutschte ihr kurz vor der Abreise heraus: "Puh, endlich geht es wieder in die Heimat." Da wurde ihr Vater wütend: "Was sagst du da? Du kommst aus Indonesien." Sie hat es ihm erklärt. "Na gut, das verstehe ich", sagte er.

"Als ich in den 70ern nach Deutschland kam, sind die Deutschen in Reih und Glied in die Kirche gegangen. Jetzt mache ich mir wirklich Sorgen, die Alten sterben, die Jüngeren gehen kaum und die ganz Jungen gar nicht."

Gottesdienst in der alten Nikolaikirche, direkt am Römer. Ein Schild an der Tür weist Touristen darauf hin: Hier geht’s grad nicht rein. Die Reihen sind bis hinten belegt. "Als ich in den 70ern nach Deutschland kam, sind die Deutschen in Reih und Glied in die Kirche gegangen", sagt eine Tante. "Jetzt mache ich mir wirklich Sorgen, die Alten sterben, die Jüngeren gehen kaum und die ganz Jungen gar nicht."

Pfarrerin Junita Lasut, dichtes schwarzes Haar und beim Singen viel Vibrato in der Stimme, führt elegant zweisprachig durch den Gottesdienst. Manches auf Deutsch, manches auf Indonesisch, weil vieles ja doch inhaltlich gleich und bekannt ist, wissen die Besucher dann schon Bescheid. Das funktioniert. Deutsch haben sie eingeführt, wegen der Ehepartner und Kinder, die nicht mehr so flüssig Indonesisch sprechen. Wo andere muttersprachliche Gemeinden noch nach einem Weg suchen, hat die Gemeinde ihren kurzerhand gefunden. Das Vater Unser wird zum babelschen Stimmengewirr, von jedem in seiner Sprache.

"Indonesier sind höflich. In Bewerbungsgesprächen kommen sie damit nicht weit."

Die alte Sprache trennt nicht nur, sie verbindet auch. Der Gemeindevorstand organisiert ein Sprachcafe, ist im Gespräch mit der Goetheuniversität und dem Weltkulturenmuseum, organisiert Kulturunterricht. "Indonesier sind höflich", sagt Jens. "Sie versuchen deswegen freundlich und zurückhaltend zu sein. In Bewerbungsgesprächen kommen sie damit nicht weit." In Indonesien stehen Einwanderer auf einer hohen Stufe: Sie bringen neues Wissen, sie haben es viele Kilometer in ein fremdes Land geschafft. Das verdient Anerkennung. In Deutschland müssen sie sich daran gewöhnen, dass sie - wie alle Einwanderer - erstmal skeptisch angeschaut werden.

Predigt: Lasut legt die Geschichte vom guten, reichen Mann aus, der Jesus fragt, wie man ins Himmelreich kommt. Es stellt sich heraus: Er ist gut, er hält alle Gebote ein. Aber er teilt nicht gerne mit den Armen und lebt für seinen Reichtum, anstatt dass der für ihn ein Mittel ist. "Denkt daran", sagt sie. "Im reichen Deutschland, im Kapitalismus ist der Gedanke verführerisch, Besitz und Bequemlichkeit zu haben."

"Man sucht die Gemeinsamkeiten, das Verbindende. Anders als sooft in Deutschland, wo erstmal eher der Unterschied gesucht wird."

In den Fürbitten geht es um die Falschbeschuldigten und jenen, die ihnen beistehen. Aus aktuellem Anlass. Indonesien ist seit etwa siebzig Jahren eine unabhängige Demokratie, nachdem es lange Zeit portugiesische Kolonie gewesen war. Neunzig Prozent der Einwohner sind Muslime, zehn Prozent sind Christen. Meistens läuft alles friedlich ab. Ein Nachbar mit anderem Glauben ist besser angesehen als ein Nachbar ganz ohne Glauben. "Man sucht die Gemeinsamkeiten, das Verbindende", sagt Jens. "Anders als sooft in Deutschland, wo erstmal eher der Unterschied gesucht wird." Nur manchmal kommt die Politik in die Quere. Endlich einmal gab es einen christlichen Gouverneur. Ihm wurde eine blasphemische Äußerung unterstellt und deswegen der Prozess gemacht. "Manchmal haben Christen und Muslime doch eine exklusive Sicht auf die Dinge", sagt Lasut. "Auch einige in unserer Gemeinde. Das versuche ich zu öffnen." Sie hat in Indonesien Theologie studiert und kam als Austauschpfarrerin nach Frankfurt. Schwerpunkt ihrer Abschlussarbeit: Interreligiöser Dialog.

Im Dienst des interreligiösen Dialogs ist heute auch die indonesische Generalkonsulin Wahyu Hersetiati zu Besuch. Ein Abschied. Ende des Jahres kehrt sie nach Indonesien zurück. Sie ist Muslima, aber sie kennt die Gemeindemitglieder gut. In Deutschland feiern sie alle großen Feste zusammen: Ostern, Weihnachten, Zuckerfest. Sie bedankt sich für die großen Verdienste im Dialog, für die Offenheit und Hilfsbereitschaft. Man will auch künftig zusammenarbeiten. Das Zusammenleben der beiden Religionsgruppen in Deutschland sei vorbildhaft, sagt sie, das werde sie nach Indonesien tragen. Außerdem: Das deutsche Bildungssystem. Was ihr fehlen wird? "Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter."

Bei interkulturellen Ehen wird der Familienname einfach erfunden

Die Gemeinde überreicht Abschiedsgeschenke. Jens spricht aus Versehen indonesisch. Alle lachen hellauf begeistert. Er wird rot und macht auf Englisch weiter. Die anderen johlen noch lauter. Hin und wieder schwappt eine Welle lauthals spielender Kinder in den Saal. Dann ist das Buffet eröffnet: Kuchen, der schmeckt als bestünde er aus Kokosmarzipanschichten im Wechsel mit geschmolzenen Gummibärchen, scharf belegte Sandwiches, Nudeln, scharfer Gemüsesalat. Stopp: Auch noch ein Doppelgeburtstag. Die beiden Frauen bekommen eine Donauwelle mit Wunderkerzen-Blume darauf. Die Gemeinde singt "Alles Gute" auf Indonesisch, Batak, Javanisch, Deutsch und Englisch und klatscht und johlt, bis die beiden die Kerze bewältigt haben.

Am Tisch zeigt Tinur auf die Tür "Schau, wer da kommt!" und klaut dem ihr gegenübersitzenden Pudjihadi Parang den Becher mit scharfem Gemüsesalat. "Schau, ich kann auch Dinge klauen, auch wenn ich nicht "Schlitzohr" heiße", kichert sie. In manchen Teilen Indonesiens gibt es keine Familiennamen, bei interkulturellen Ehen, werden dann eben welche erfunden. Die Familie von Pudjihadis Frau nannte ihn "Parang", Schlitzohr.

"Ohne Gott bin ich nichts"

Links neben Tinur sitzt ihr eigener Mann. Sie hat ihn an ihrem ersten Tag in Deutschland kennen gelernt. Mit diesem Land passte einfach alles. "Der elegante Herr da, ist mein Mann", stellt sie ihn vor. Er lacht.

"Wenn meine Lehrer aus Holland hierher kommen dürfen", dachte sie als Mädchen. "Warum sollte ich nicht nach Holland können?" Sie bat ihren Vater um Erlaubnis.

"Nein."

Dann wurde sie Krankenschwester. Sie erfuhr, dass Deutschland Schwestern suchte.

"Nach Holland lässt du mich nicht gehen", sagte sie ihrem Vater. "Aber nach Deutschland musst du mich jetzt lassen."

"Sei brav, gut zu den Menschen und bete", gab ihr Vater ihr mit auf den Weg. Tinur ist die dritte Generation einer tief gläubigen Familie. "Ohne Gott bin ich nichts", sagt sie. Ein einziges Mal drohte ein Hauch von Zweifel. Da war sie sehr krank. "Wenn es dich gibt, warum dann ich", fragte sie. Aber dann dachte sie an die Medikamente, die sie bekommen konnte, an die Heilungschancen und stellte fest: "Es geht doch alles gut. Ich habe Vertrauen."

Priska übt noch einmal mit dem Chor. Sie hat ihn 2005 übernommen, kaum, dass sie in Deutschland angekommen war. Studieren wollte sie hier, wie die meisten. Dann wurde es eine Ausbildung zur Kauffrau - und Jens. Suchen die Indonesier nicht doch unterbewusst ihresgleichen? Priska lacht die Frage einfach weg. Sie haben sich eben auf irgendeiner indonesisch-deutschen Veranstaltung kennen gelernt.

"Wir wollen unsere Offenheit und Herzlichkeit bewahren - und vielleicht andere damit anstecken."

Abendessen. Kurkumareis, Kochfisch, Chilihähnchen. Im Hintergrund Tanzübungen für das Rahmenprogramm eines interkulturellen theologischen Symposiums. Seit 2004 gehört die Gemeinde zur Evangelischen Kirche Deutschland. "Die Deutsche Kirche hat viele gute Strukturen", sagt Jens. "Aber wir möchten nicht alles übernehmen. Viele Gemeinden sind so skeptisch, wenn Neue in ihrer Kirche stehen. Wir wollen unsere Offenheit und Herzlichkeit bewahren - und vielleicht andere damit anstecken."

Aus einem einfachen Chorbesuch ist ein Gottesdienst geworden, eine Geburtstagsfeier, der Abschied der Generalkonsulin, die Bekanntschaft mit Tanten und Onkeln, kulinarischen Spezialitäten und traditionellen Tänzen. Und das alles in fünf Stunden.

"Selamat tinggal", sagen alle Onkel und Tanten zum Abschied und drücken fest die Hand. "Auf Wiedersehen. Komm wieder. Ganz oft!"