In seiner ersten Arbeit nach dem Publikumserfolg "Die Standesbeamtin - Drei sind eine zuviel" (2009) erzählt der Schweizer Autor und Regisseur Micha Lewinsky eine Geschichte, die zunächst ganz harmlos beginnt. Aber die beschaulichen Bilder täuschen: "Nichts passiert" ist ein knallhartes Drama, das seine Hauptfigur an ihre Grenzen führt; und darüber hinaus. So etwas funktioniert nur mit einem Schauspieler wie Devid Striesow, der den netten Nachbarn ebenso glaubwürdig verkörpern wie einen eiskalten Mörder. Der Reiz des Films liegt unter anderem darin, dass diese Rolle ihm beides beschert: Engel hat ein Alkoholproblem; wenn er zuviel trinkt, rastet er aus. Davon abgesehen ist er eigentlich ein sympathischer Typ. Seine Frau Martina (Maren Eggert), eine erfolgreiche Schriftstellerin, ist allerdings der Meinung, er sollte mehr Verantwortung übernehmen, auch in der Erziehung der pubertierenden Tochter Jenny (Lotte Becker).
Die Eheszenen sind etwas freudlos, weil sie so klischeehaft wirken: Der Mann ist der große Junge, der nicht erwachsen werden will, die Frau hat die undankbare Rolle der Bedenkenträgerin; und natürlich weiß Jenny genau, wie sie die beiden gegeneinander ausspielen kann. Andererseits dienen diese Momente der Charakterisierung der Hauptfigur: Thomas spürt, dass er drauf und dran ist, Martina zu verlieren, deshalb darf im gemeinsamen Urlaub nichts schiefgehen. Natürlich passiert ausgerechnet dann etwas Furchtbares, als er endlich mal Stellung bezieht: Er erlaubt den beiden 15jährigen Mädchen, auf eine Party zu gehen; im Verlauf des Abends wird Sarah (Annina Walt) vergewaltigt. Und nun wird die Geschichte fast zur Fallstudie, denn Thomas ist fortan hin und hergerissen. Einerseits reagiert er mit ehrlichem Entsetzen, andererseits ist Sarahs Vater auch sein Chef, und der ist gerade dabei, ihm eine Chance zur beruflichen Neuausrichtung zu geben; also hält er Sarah subtil davon ab, zur Polizei zu gehen. Kurz drauf scheint sich auf grausame Weise alles zum Guten zu wenden, als das traumatisierte Mädchen nach einem Sturz die Erinnerungen an die Ereignisse verliert. Aber für Thomas ist die Sache noch nicht ausgestanden; er wird die Heimfahrt als zweifacher Mörder antreten.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Handlung hat das Zeug zum Krimi ebenso wie zur schwarzen Komödie; ein Drama ist sie ohnehin. Lewinsky erzählt die Geschichte jedoch wie ein neutraler Beobachter. Das funktioniert, weil Striesow den Familienvater als im Grunde unbescholtenen Zeitgenossen verkörpert. Über die Abgründe, die sich auftun, ist er genauso erschreckt, wie es jeder andere wäre. Das macht sein Verhalten so nachvollziehbar: Bis zum Schluss bleibt Thomas Identifikationsfigur und Sympathieträger; und das, obwohl er spätestens den Doppelmord mit erkennbarem Vorsatz begeht und dabei unter dem Einfluss des Alkohols auch gar nicht mehr wie der "normale nette Mann" aussieht, der er doch eigentlich sein möchte.
Der Schauplatz unterhalb von Davos, wo die Schweiz überhaupt nicht mondän wirkt (gedreht wurde im Prättigau), passt perfekt zu dieser Urlaubsgeschichte der etwas anderen Art. Ein gutes Händchen hatte Lewinsky auch bei der Auswahl der beiden jungen Darstellerinnen; gerade Annina Walt, die das Vergewaltigungsopfer spielt, macht ihre Sache vorzüglich. Auch ihre Leistung hat großen Anteil daran, dass man "Nichts passiert" nicht so schnell vergisst.