Der Film verknüpft einen zunächst nicht weiter ungewöhnlichen Kriminalfall mit dem "Deutschen Herbst", der am 18. Oktober 1977 in Stuttgart-Stammheim mit dem Tod von vier Terroristen endete. Bis heute bezweifeln viele einstige RAF-Sympathisanten, dass sich Andreas Baader und seine Mitstreiter in der "Todesnacht von Stammheim" selbst das Leben genommen haben. Vor diesem Hintergrund hat Rolf Basedow eine Handlung entworfen, die auf raffinierte Weise Gegenwart und Vergangenheit kombiniert; und natürlich ist das ein Stoff wie geschaffen für Dominik Graf.
Das Ergebnis ist ein fesselnder Thriller, der bloß ein Manko hat: Er ist entschieden zu kurz. Über die Ereignisse im September und Oktober 1977 - das Kidnapping des Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer, die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" und ihre Erstürmung durch die GSG9 in Mogadischu, die Todesfälle in Stammheim - ist in diesen Wochen viel berichtet worden. Trotzdem müssen sie im Rahmen des Films rekapituliert werden, denn nur vor diesem Hintergrund ist die Handlung zu verstehen. Graf und Basedow haben gemeinsam schon für einige herausragende Werke gesorgt, unter anderem "Im Angesicht des Verbrechens". Der Autor musste das Projekt aus Zeitgründen irgendwann allein Graf überlassen und hat seinen Namen daher zurückgezogen (das Drehbuch stammt von Graf und "Raul Grothe"). Dies sowie der enge zeitliche Rahmen erklären vielleicht, warum der unumgängliche Erklärungsbedarf nicht immer elegant in die Handlung integriert ist: Hauptkommissar Lannert (Richy Müller) schildert erklärt den jüngeren Kollegen, wie das damals war, als sich die Kinder gegen ihre Väter stellten, weil in den Führungspositionen immer noch die alten Nazis hockten. Später besucht er den pensionierten Kollegen Strobel (Michael Hanemann), der die Todesfälle in Stammheim untersucht hat; in dessen weinselige Erzählungen ist ein Crashkurs über die bundesdeutsche Historie vom Schah-Besuch 1967 bis zum Herbst 1977 integriert. Jüngere Zuschauer, die sich bislang nicht viel mit dieser Zeit beschäftigt haben, werden dennoch kaum verstehen, warum eine gewaltbereite radikale Minderheit, die dem Staat damals den Kampf angesagt hat, in ihrer Generation so viele Sympathien genoss.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Mit der Gegenwart beschäftigt sich Graf ungleich intensiver. Das ist einerseits verständlich, schließlich haben Lannert und sein Kollege Bootz (Felix Klare) einen aktuellen Mord zu klären, aber andererseits wirkt der Fall mutwillig verworren, weil das Drehbuch den Fall komplizierter erzählt als nötig wäre. Die eigentliche Handlung beginnt mit einem skurrilen Leichenfund im Kofferraum eines Unfallautos; der Fahrer war auf dem Weg nach Frankreich, um die sterblichen Überreste seiner bereits obduzierten verstorbenen Ex-Frau, die angeblich alkoholisiert in der eigenen Badewanne ertrunken ist, erneut untersuchen zu lassen. Er ist überzeugt, dass sie von ihrem Liebhaber Wilhelm Jordan (Hannes Jaenicke) ermordet worden ist, und dieser Mann sorgt dafür, dass sich Lannert auf eine Reise in die Vergangenheit begeben muss: Angeblich hat Jordan vor vierzig Jahren als Kronzeuge verraten, wie die RAF-Terroristen in Stammheim an die Waffen gekommen sind, mit denen sie sich erschossen haben. Seither darf er offenbar ungestraft alle möglichen Delikte begehen, weil der Verfassungsschutz nach wie vor seine schützende Hand über ihn hält; deshalb werden Lannert und Bootz auch umgehend vom Oberstaatsanwalt (Friedrich Mücke) zurückgepfiffen.
Das allein wäre im Grunde Geschichte genug, aber Graf bringt auch noch jene untergetauchten Ex-Terroristen ins Spiel, die ihren Lebensabend durch gelegentliche Raubüberfälle finanzieren. Auch diese Gruppe böte Stoff für einen eigenen Film; kein Wunder, dass "Der rote Schatten" vor lauter Handlung aus allen Nähten platzt. Einige Szenen wirken allerdings gerade gemessen an der Komplexität des Stoffs viel zu lang, beispielsweise ein ausufernder Ausflug Jordans ins Stuttgarter Nachtleben; reizvoll ist allein der Bezug zum Jahr 1977. Dass Graf einen Ausschnitt aus Claus Peymanns Inszenierung des Goldoni-Stücks "Diener zweier Herren" integriert, hat selbstredend ebenso seine Bewandnis wie andere dokumentarische Zeugnisse jener Jahre, die geschickt mit zum Verwechseln ähnlich gestalteten Spielszenen verbunden werden. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die auffallend rothaarige Heike Trinker als Mitglied der RAF-Rentner, heute wie damals die Geliebte von Jordan.
Andere Teile der Geschichte sind allerdings viel interessanter, zum Beispiel die Frage, wie gut der Staat damals über die geplanten Suizide in Stammheim informiert war, und natürlich greift Graf auch die hartnäckige Mordtheorie auf; beide Varianten werden in bestürzend echt wirkenden Szenen bebildert. Der pensionierte Polizist Strobel schlägt zudem eine Brücke zur Verwicklung des Verfassungsschutzes in die Mordserie des "NSU", wenn er wissen will, warum der Staat "gemeinsame Sache mit seinen Feinden" mache. Der Rest ist Graf, wie man ihn kennt: Einstellungen wie aus dem Italo-Western, laute Funksprüche, viel nackte Haut. Allen Einwänden zum Trotz ein faszinierender Film; und obendrein ein sehr ungewöhnlicher und daher mutiger "Tatort".