27.9., ARD, 20.15 Uhr:„Das Leben danach“
Der Heldin ergeht es ähnlich, zumindest im übertragenen Sinn. Eva und Volker A. Zahn schildern in ihrem Drehbuch, wie eine junge Teilnehmerin der Love Parade, bei der 21 Menschen starben und über 600 verletzt wurden, noch Jahre später unter den Erlebnissen leidet. Die Symptome entsprechen einer posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie für Kriegsheimkehrer typisch ist. Bilderfetzen genügen, um die Panikattacken zu illustrieren: Wenn Antonia die Farbe pink sieht, wenn sie das Martinshorn eines Polizeiautos hört oder in eine Menschenmenge gerät, rastet sie aus. Sie mag die Tragödie im Duisburger Tunnel körperlich überlebt haben, doch im Grunde ist auch sie an jenem schicksalhaften 24. Juli 2010 gestorben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Jella Haase hat sich ohnehin spätestens mit dem Psychiatriedrama „4 Könige“ (2015) von ihrem Rollen-Image als Krawallnudel aus den „Fack ju Göhte“-Komödien emanzipiert, aber hier spielt sie preiswürdig: Antonia ist eine zutiefst verletzte Frau, die vor sieben Jahren jede Basis verloren hat. Deshalb ist der Titel im Grunde unzutreffend: Für Antonia gibt es kein Leben danach. Das Drehbuch verdeutlicht dies vor allem mit Hilfe der Nebenfiguren: Selbst ihr Vater (Martin Brambach) und ihre Stiefmutter (Christina Große), eine Sozialarbeiterin, verlieren langsam die Geduld. Wie kaputt die junge Frau innerlich ist, erzählt der Film anhand einer verunglückten Liebesgeschichte. Die Handlung beginnt mit einem Ausraster: Antonia verwüstet am Ort des Unglücks eine Gedenkstätte, die mit Kerzen, Stofftieren und den obligaten Schildern - „Warum?“ - an die Tragödie erinnert. Später wird sie lakonisch feststellen: „Es gibt kein Warum.“ Auf der Flucht vor der Polizei rettet sie sich in ein Taxi. Der Fahrer, Sascha (Carlo Ljubek), erzählt ihr, auch er gehöre zu den Überlebenden, aber das ist eine Lüge: Sascha war früher Mathematiker; er hat die Örtlichkeiten in einem Gutachten für unbedenklich erklärt. Als Antonia rausfindet, wer Sascha wirklich ist, nimmt sie auf perfide Weise Rache.
Nicole Weegmann hat schon mehrere Drehbücher des Ehepaars Zahn inszeniert; für „Ihr könnt euch niemals sicher sein“ bekamen alle drei den Grimme-Preis, „Mobbing“ ist ebenfalls mehrfach ausgezeichnet worden. Die Regisseurin verzichtet bei ihrer Umsetzung konsequent auf schlichte Schwarzweißmalerei. Im Gegenteil: Es gehört durchaus Mut dazu, einen Menschen wie Antonia nicht ausschließlich als Opfer zu zeigen, sondern sie sogar zur Täterin zu machen. Sascha wiederum, eigentlich Täter, ist auf seine Weise ebenfalls Opfer: Er hat psychische Probleme und seine Arbeit wie auch seine Familie verloren. Tatsächlich ist er sogar die bessere Identifikationsfigur als die unberechenbare Antonia. Dass er Antonia belügt, hat bittere Konsequenzen: Erst stellt sie ihn in ihrer Selbsthilfegruppe bloß, dann führt sie ihn in eine höchst peinliche Situation, als die beiden ein vermeintliches Geburtstagsfest besuchen, bei dem aus guten Grund eine Stimmung wie bei einer Trauerfeier herrscht; und damit ist ihr Bedürfnis nach Vergeltung noch längst nicht gestillt, denn nun knöpft sie sich Saschas heranwachsenden Sohn vor.
Nicht zuletzt aus Gründen des Taktgefühls haben die Verantwortlichen darauf verzichtet, die Katastrophe zu rekonstruieren; von den immensen Kosten der Massenszenen ganz zu schweigen. Es gibt zwar zwischendurch eine kurze Sequenz, die den originalen Smartphone-Aufnahmen nachempfunden ist, aber ansonsten genügen Antonias Erinnerungs-Flashbacks vollauf, um eine entsprechende Wirkung herzustellen. Womöglich noch wichtiger für das Verständnis der Figur sind jedoch Antonias Schuldgefühle, die einerseits wie bei vielen Überlebenden abstrakter Natur sind, weil sie ihr Überleben wie eine Strafe empfindet; andererseits gibt es aber auch einen ganz konkreten Anlass für ein schlechtes Gewissen. Dieser Umstand machen die junge Frau psychisch noch fragiler; ihr Verhalten wird damit nicht entschuldigt, aber immerhin erklärt; auch das ist, gemeinsam mit Haases eindringlichem Spiel, Voraussetzung dafür, dass Antonia mehr und mehr an Sympathie gewinnt.
Kühn ist auch die Idee, ausgerechnet zwei Figuren miteinander zu kombinieren, die beide gebrochen sind; als gäbe es wider jede Erfahrung die Möglichkeit, dass minus mal minus plus macht. Dass die Geschichte dennoch nicht trostlos, sondern mit einem tröstlichen Licht am Ende des Tunnels schließt, widerspricht zwar jeglicher Vernunft, aber so ist das eben mit den Gefühlen. Es gibt kein Happy End, das wäre völlig unrealistisch; aber etwas, das einem Happy End so nahe kommt, wie es unter diesen Umständen möglich ist.