Achtzig Minuten Anlauf sind ganz schön lang, aber dann setzt dieser Film zu einem erschütternden fast vierzigminütigen Finale an, dessen Bilder man so schnell nicht mehr loswird. Das ZDF erinnert mit dem Drama "Wir sind jung. Wir sind stark." aus der Redaktion Das kleine Fernsehspiel an jene Ereignisse, die dem Rostocker Stadtteil Lichtenhagen vor 25 Jahren weltweit zu traurigem Ruhm verholfen haben. Schon seit Tagen hatten Ausländerhasser vor einem Asylbewerberheim demonstriert. Am Abend des 24. August 1992 eskalierten die Ereignisse: Weil die Sinti und Roma längst weggebracht worden waren, richtete der aufgeputschte Mob seinen Hass vor den Augen mehrerer tausend Schaulustiger gegen die Vietnamesen im Nachbarhaus. Regisseur Burhan Qurbani, der das Drehbuch gemeinsam mit Martin Behnke geschrieben hat, erzählt die Geschichte aus Sicht eines Jugendlichen: Stefan (Jonas Nay) driftet mit seinen Freunden durch den Tag. Aus Mangel an Zielen schlagen sie die Zeit tot; radikales Gedankengut fällt auf fruchtbaren Boden. Als ihn eine junge Frau fragt, ob er rechts oder links sei, antwortet Stefan: "normal". Aber normal wird am Ende dieser Nacht nichts mehr sein.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Wir sind jung. Wir sind stark." ist Qurbanis zweite Regiearbeit nach seinem beachtlichen Debüt "Shahada" (2010), einem Film über drei junge Berliner Muslime zwischen den Kulturen. Mit dem Rostock-Drama stellt der Sohn afghanischer Flüchtlinge erneut sein herausragendes Talent unter Beweis. Entscheidenden Anteil hat Kameramann Yoshi Heimrath; es ist nicht zuletzt seiner Bildgestaltung zu verdanken, dass die ersten achtzig Minuten nicht nur wie ein überlanges Vorspiel wirken. Ein kleines Kunstwerk ist beispielsweise eine mehrfache Kreisfahrt in einem Zimmer, die die Jugendlichen in immer wieder anderen Positionen zeigt. Mutig war auch die Entscheidung, den Film größtenteils in Schwarzweiß zu drehen, was den Bildern vom ziellosen Dasein zusätzliche Authentizität verleiht. Die verschiedenen Charaktere - der Junge aus gutem Hause, der Neonazi, die zappelige Nervensäge – fallen zwar etwas klischeehaft aus, aber das stört nicht weiter, zumal Qurbani seine jungen Hauptdarsteller ausgezeichnet geführt hat; abgesehen davon sind gerade Nay und der Schweizer Joel Basman alles andere als Anfänger und vielfach ausgezeichnet, Nay vor allem für "Homevideo", Basman mit mehreren Nachwuchspreisen.
Prominentester Darsteller ist jedoch Devid Striesow als führender Lokalpolitiker einer linken Partei, der sich lieber verkriecht, als Gesicht zu zeigen. Der Mann ist außerdem der alleinerziehende Vater von Stefan; ausgerechnet sein Sohn wird in den späten Abendstunden den ersten Molotow-Cocktail in den Wohnblock mit den Vietnamesen werfen. Auch deren Sichtweise wird geschildert: Die Familie der jungen Lien (Trang Le Hong) plant angesichts von Ausländerfeindlichkeit und düsteren Zukunftsaussichten die Rückkehr in die Heimat. Lien jedoch will hier bleiben; sie spricht gut deutsch, ist integriert und hat eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Der regelmäßige Wechsel der Perspektive hat allerdings zur Folge, dass gerade die Motive der Jugendlichen zu kurz kommen. Warum beispielsweise Stefan am Ende gewalttätig wird, lässt Qurbani offen. Es gibt zwar einen Erklärungsversuch des Großvaters, doch der ist etwas dürftig: Er selbst hat sich als überzeugter Kommunist dem faschistischen Vater widersetzt, sein Sohn Martin ist Demokrat; und mit Stefan geht alles wieder von vorn los.
Plötzlich wird das Bild farbig
Gut war hingegen die Idee, regelmäßig die Uhrzeit einzublenden; sie fungiert gleichermaßen als Kapiteltrenner wie auch - dank des Countdown-Effekts - als Spannungsverstärker. Ungleich größere Wirkung hat jedoch ein Kniff, der das Drama förmlich auf eine neue Stufe katapultiert. Als sich die Jugendlichen auf dem Vorplatz des Gebäudes einfinden, wo sich bereits eine riesige Menge versammelt hat, folgt Heimrath ihnen in einer langen ungeschnittenen Kamerafahrt. Schließlich werden Stefan und seine Freunde von einem Reporter nach ihren Träumen befragt, und plötzlich wird das Bild farbig. Auf einmal wirkt der bis dahin eher sparsam anmutende Film auch dank der vielen Komparsen erstaunlich aufwändig; ein beinahe gespenstischer Effekt, der der nun folgenden quälend langen Sequenz vom Ausbruch völlig sinnloser Gewalt eine bedrückende zusätzliche Dimension verleiht. Während sich Stefan und seine Freude in dem Wohnblock nach den geflüchteten Bewohnern suchen, zeigt Qurbani in fast schon sarkastischen Zwischenschnitten immer wieder Stefans Vater: Martin hat sich unerkannt unters Volk gemischt und ruft "Keine Gewalt – wir sind das Volk", aber das Volk, dem die abgezogene Polizei das Feld überlassen hat, skandiert lieber "Deutschland den Deutschen, Ausländer aus!".
Die achtzig Minuten zuvor hätte der Regisseur auch etwas straffer erzählen können, aber sein mit packender elektronischer Musik unterlegtes Finale ist großes Kino. Der Film hat das Prädikat "Besonders wertvoll" erhalten und war in den Kategorien Bester Spielfilm und Beste Kamera für den Deutschen Filmpreis nominiert; Joel Basman gewann den Preis als bester Nebendarsteller.