Eine Geschichte wie für einen Spielfilm: Dass er ein Adoptivkind ist, erfuhr Izak, damals zehn Jahre alt, Mitte der Fünfziger durch einen Mitschüler. Der kleine Israeli wollte unbedingt seine in Kanada lebende leibliche Mutter Aida, eine gebürtige Polin, kennenlernen. Das klappte auch; Izak blieb zwar bei seiner Adoptivfamilie, aber die beiden sahen sich von nun an regelmäßig. Bloß über die Vergangenheit wollte Aida nicht sprechen. So kam es, dass Izak sechs Jahrzehnte später durch Zufall auf ein Geheimnis stieß, dass sein Dasein erschüttert und sein Leben verändert: Seine Mutter hat ihm all die Jahre verschwiegen, dass er einen zehn Monate jüngeren Bruder hat. Er heißt Shep und lebt ebenfalls in Kanada.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der israelische Filmemacher Alon Schwarz ist Izaks Neffe, er hat seinem Onkel bei der Recherche geholfen und ihn bei der Reise zu Shep begleitet. Das Wiedersehen der Brüder, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Kleinkinder getrennt wurden, ist von großer Herzlichkeit, es stellt sich umgehend eine tiefe Verbundenheit ein. Aber Shep ist auch erschüttert: Er hatte keine Ahnung, dass seine Mutter bloß drei Flugstunden von ihm entfernt lebt. Gemeinsam suchen sie Aida in einem Altenheim auf, doch die hochbetagte Frau bleibt ihnen viele Antworten schuldig. Sie sagt, sie könne sich nicht mehr erinnern, was damals passiert ist. Also füllt Schwarz die Lücken auf eigene Faust und macht sich auf die Suche nach Zeitzeugen. Das Ergebnis seiner Arbeit ist dieser Film, eine israelisch-deutsche Koproduktion, deren Entstehen maßgeblich der Unterstützung durch Arte und den SWR zu verdanken ist.
Weitere Antworten nimmt Aida mit ins Grab
Natürlich lebt "Aidas Geheimnisse" nicht zuletzt von den Emotionen; allein die Szenen mit den beiden Brüdern sind ungemein bewegend. Die Faszination des Stoffs liegt jedoch in den vielen offenen Fragen, und nicht alle kann Alon Schwarz beantworten. Ein hübsches Detail ist auch die Tatsache, dass nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera zwei Brüder am Werk waren: Alon hat den Film gemeinsam mit seinem Bruder gemacht; Shalon ist Produzent, Koregisseur und Kameramann. Vermutlich ist es nicht zuletzt diese persönliche Betroffenheit, die dem Dokumentarfilm eine ganz eigene Note gibt. Ähnlich wie schon vor einigen Jahren der gleichfalls israelisch-deutsche Dokumentarfilm "Die Wohnung" erzählen die Brüder Schwarz die Geschichte der Familie aus der Perspektive der dritten Generation. In "Die Wohnung" schilderte Arnon Goldfinger, wie er bei der Auflösung der Wohnung seiner Großeltern auf ein uraltes Familiengeheimnis stieß. In vielen Familien sind die Ereignisse, die sich während des Zweiten Weltkriegs zugetragen haben, tabu gewesen; das verbindet Täter und Opfer auch noch Jahrzehnte nach dem Holocaust miteinanderolocaustH. Oftmals bringen erst die Urenkel – oder, wie bei "Aidas Geheimnisse", die Großneffen – Licht ins Dunkel.
Auf diese Weise wird das Werk der Schwarz-Brüder mehr und mehr zu einer Zeitreise, denn mit Hilfe von früheren Freundinnen aus dem Überlebendenlager in Bergen-Belsen rekonstruiert Alon Schwarz, was damals passiert ist. Sein Film erzählt von einer Frau, die das Beste für ihre Kinder wollte; für Izak war das eine Kindheit in Israel, während Shep mit seinem Vater nach Kanada auswanderte und bei einer Stiefmutter aufwuchs, die er viele Jahre für seine leibliche Mutter hielt. Als Glücksgriff erweist sich ein Fund im Amsterdamer Institut für Holocaust-Studien: Eine Kindergärtnerin des Lagers hat Hunderte von Fotos hinterlassen, in denen sich neben vielen Aufnahmen der kleinen Jungs auch Bilder des Vaters finden; aber ist der gut aussehende "Don Juan" überhaupt der Erzeuger der beiden? Ein DNS-Test klärt auch diese Frage, doch weitere Antworten nimmt Aida mit ins Grab, und so bleibt der Film seinem Titel bis zum Ende gerecht. Izak kann damit leben, aber seltsam ist es schon, dass seine Mutter ihm den Vater vorenthalten hat und außerdem sämtlichen Mitgliedern der Adoptivfamilie gestanden hat, dass er noch einen Bruder hat; bloß ihm selbst nicht. Sie mussten versprechen, diese Information für sich zu behalten; sogar Neffe Alon wusste Bescheid. Shep wiederum versteht nicht, warum seine Mutter nie nach ihm gesucht hat. Und erst eine epilogisch nachgereichte Information verrät, dass Aida ein weiteres Geheimnis von ähnlicher Tragweite gehütet hat, über das sie offenbar genauso wenig sprechen wollte wie über die ihre Erlebnisse als junge Zwangsarbeiterin in Deutschland. All das aber ist für Izak zweitrangig: Er hat im Alter von 68 Jahren in Gestalt seines Bruders das größte Geschenk seines Lebens bekommen.