Herr Sengelmann, was ist für Sie die größte Errungenschaft der Reformation?
Julian Sengelmann: Da gibt es mehr als eine. Es sind so viele Dinge passiert, die wir heute nicht mehr wegdenken können: der freie Zugang zu Bildung, das Verständnis von Freiheit. Dass wir Institutionen und uns selbst immer wieder hinterfragen müssen. Dass wir zweifeln und scheitern dürfen und nicht gescheitert bleiben. Der Wahlspruch der Reformation: "Ecclesia semper reformanda", das bedeutet: Die Kirche muss sich immer weiter verändern.
Versuchen Sie es trotzdem: Was ist heute am wichtigsten?
Sengelmann: Meiner Meinung nach ist heute das Spektrum der Möglichkeiten, Bedürfnisse und Sehnsüchte zu befriedigen, so riesig wie nie zuvor. Deshalb wird es immer wichtiger – als Privatperson und als Kirche –, sich selbst zu hinterfragen: Macht das eigentlich noch Sinn, was ich da mache? Macht es mich freier? Was ist noch gut, was nicht mehr? Die Chance und die Aufgabe zu haben, sich in allen Lebensbereichen immer wieder neu aufstellen und neu ausrichten zu können, ist ein großes Geschenk. Es ist ein Geschenk nicht nur für sich selbst, sondern für seinen Nächsten und für die ganze Welt.
Was bedeutet Freiheit für Sie?
Sengelmann: Freiheit ist Zuspruch und Anspruch. Wichtig ist zu erkennen, was einen unfrei macht. Das sind oftmals ganz profane Dinge. Wenn alle meine Freunde ein bestimmtes Paar Schuhe tragen – und ich denke, ich müsste das auch. Muss ich aber nicht. Freiheit ist das höchste Gut und wir müssen immer wieder prüfen: Was macht Freiheit aus, was macht unfrei und was muss ich tun, damit auch andere Menschen frei sein können?
Hilft Martin Luther Ihnen an dieser Stelle weiter?
Sengelmann: Martin Luther ist für mich ein Vorbild in Sachen Freiheit. Er trat mit großer Entschlossenheit und Standhaftigkeit der Seele für seine Überzeugung ein. Er glaubte nicht mehr daran, dass Kirche weiter so funktionieren könne wie zuvor. Mit Strukturen, die die Menschen unterdrückten – und einer Lehre, die das Seelenheil der Menschen daran band, dass es ihnen gelinge, Gott gnädig zu stimmen.
Freiheit kommt bei Luther aus seinem Glauben. Weil er sich von Gott geliebt wusste, obwohl er sich oft als schwach und zweifelnd erlebt hat. Wie geht es Ihnen damit?
Sengelmann: Ich zweifle total viel und das ist auch völlig in Ordnung. Die Frage ist, wie gehst du mit Zweifeln und wie gehst du mit Scheitern um? Eine meiner Lieblingsbands ist Coldplay. Sie haben eine sehr schöne Liedzeile: "Just because I'm losing doesn't mean I'm lost". Frei übersetzt könnte man sagen: Nur weil ich scheitere, heißt das nicht, dass ich gescheitert bleiben muss. Das ist wichtig und schön am Protestantismus: Wir dürfen scheitern, wir dürfen zweifeln. Wir sind in unserem Scheitern und in unserem Zweifeln geliebte Kinder Gottes. Scheitern hat nicht das letzte Wort. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Wir glauben daran, dass der Tod seiner Macht und seiner Endgültigkeit beraubt ist.
Wir dürfen scheitern, wir bleiben aber nicht gescheitert
In der Theologie wird dieser spannende Gedanke als "Rechtfertigungslehre" bezeichnet. Wie wichtig ist sie Ihnen?
Sengelmann: Wenn man die Rechtfertigungslehre verinnerlicht, entlastet sie total. Der Mensch ist "simul iustus et peccator", wie Martin Luther predigte: Er ist gleichzeitig Sünder und von Gott Gerechtfertigter. Das heißt: Wir dürfen scheitern, wir bleiben aber nicht gescheitert.
Wann sind Sie Gott nahe?
Sengelmann: Ich halte viele Zwiesprache mit Gott, brauche ihn als Reflexionsinstanz und auch als Tröster. Vorm Einschlafen bete ich das Vaterunser. Luther sagte, dass man entweder aus vollem Herzen oder gar nicht beten solle. Also nehme ich mir dafür Zeit. Wenn man sich auf das Vaterunser einlässt, erzählt jede Zeile eine ganze Welt.
Hilft Ihnen der Glaube bei der Arbeit vor der Kamera?
Sengelmann: Ja und Nein. Vieles vor der Kamera ist Handwerk und passiert durch Erfahrung, Einübung und durch Vorbereitung. Aber natürlich werde auch ich mich beim Text verhaspeln. Das ist ärgerlich – gerade in unserer Gesellschaft, in der du immer nur bist, was du machst oder was dein Status ist. Deshalb ist es wichtig zu versuchen, alles professionell zu machen. Aber am Ende wird mein Seelenheil davon nicht abhängen.
Wie wichtig ist es Ihnen, getauft zu sein?
Sengelmann: Getauft sein bedeutet für mich, die Möglichkeit zu haben, alles zu versuchen, sein Bestes zu geben und auch, wenn das mal nicht reicht, den Zuspruch zu haben, trotzdem seine Dämonen, die Altlasten, hinter sich lassen zu können – und das jeden Tag aufs Neue.
Sie sagten, Martin Luther sei für Sie Vorbild in Sachen Freiheit. Was noch?
Sengelmann: Martin Luther war ein großer Sprachkünstler. Er hat dem Volk aufs Maul geschaut und hingehört, was Menschen bewegt. Das hat er damals wahnsinnig clever gemacht, indem er Lieder, die Gassenhauer seiner Zeit waren, für sich genommen und umgetextet hat. Ich glaube aber nicht, dass Luther heute Schlager singen würde, nur weil den viele Menschen hören. Das wäre vielleicht zu plump. Luther wollte eine Sprache finden, die die Menschen verstehen, die aber trotzdem kunstvoll prägnant und poetisch ist. Daher glaube ich, dass Luther heute vielleicht eher eine Mischung aus Singer-Songwriter und Hip-Hop-Künstler wäre.
Singen Sie gern in der Kirche?
Sengelmann: Als Musiker liebe ich das Singen im Gottesdienst. Luther hat gesagt, Singen sei ein leibseelisches Ereignis. Dadurch, dass dein Körper vibriert, dass du dich auf die Noten und den Text einlässt, passiert etwas mit dir. Beim Singen im Gottesdienst lernst du nicht nur dich, sondern auch deinen Banknachbarn kennen. Du stehst neben jemandem, der viel besser singt als du oder auch schlechter. Darauf musst du dich einlassen. Höre deinen Nächsten wie dich selbst! Heute hören wir alle sehr viel mehr Musik als früher. Das Problem ist, wir haben verlernt, miteinander zu singen. Und wir müssten stärker versuchen, neue Kirchenlieder zu finden. Vieles was heute musikalisch passiert, auch an guter Popmusik, passt total gut in den Gottesdienst.
Veränderungen geschehen durch kleine Anfänge
Viel dreht sich beim Reformationsjubiläum um Luther. Welche Rolle spielen die anderen Reformatoren?
Sengelmann: Martin Luther ist die Galionsfigur der Reformation. Dabei hat er das gar nicht allein gemacht. Auch Luther hatte damals schon ein Team um sich, ohne das er gar nicht funktioniert hätte. Er hatte Philipp Melanchthon, der für all das wichtig war, was wir später mit dem Bildungskanon verbunden haben. In der Schweiz spielte Luther zum Beispiel keine Rolle, sondern Johannes Calvin und Ulrich Zwingli.
Wo ist Ihrer Ansicht nach heute Reformation nötig?
Sengelmann: Jeder sollte bei sich selbst anfangen zu hinterfragen, wie er ein besseres, zum Beispiel klimabewussteres Leben führen kann. Wir haben große Migrationsbewegungen auf der Welt. Da müssen wir uns fragen: Wie können wir freundlicher miteinander umgehen? Wie können wir uns klar gegen rechtspopulistische Tendenzen aufstellen, die wir in diesem Land haben? Veränderungen geschehen durch kleine Anfänge.