Dabei hat zuvor alles vergleichsweise harmlos begonnen. Frank Baumann (Carlo Ljubek) begleitet seinen neunjährigen Sohn Hannes (Mikke Rasch) zum Fußball, Mutter Esther (Katharina Marie Schubert) kommt zu spät. Hannes ist Torwart und durch Esthers Ankunft abgelenkt; ein Weitschuss trifft ihn am Kopf, er bricht zusammen. Die Eltern befürchten eine Gehirnerschütterung und bringen den Jungen sofort ins Krankenhaus. Dort stellt sich raus, dass er ein angeborenes Aneurysma im Gehirn hat, eine erweiterte Arterie, die durch das Aufpralltrauma geplatzt ist. Für eine Operation ist es zu spät. Hannes’ Hirn arbeitet bereits nicht mehr, der Körper wird nur noch maschinell am Leben erhalten.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Regisseurin Aelrun Goette, dutzendfach ausgezeichnet, erzählt seit zwanzig Jahren immer wieder Geschichten über Eltern und Kinder in Extremsituationen. "Ohne Bewährung" (1997, Robert-Geisendörfer-Preis) war das Porträt einer jugendlichen Mörderin, "Die Kinder sind tot" (2003, Deutscher Filmpreis) ein Dokumentarfilm über das authentische Sterben zweier kleiner Jungs, die von ihrer Mutter in einer Hochhaussiedlung sich selbst überlassen worden sind. In ihren Spielfilmen ist Goette diesen Themen treu geblieben: In dem Familiendrama "Unter dem Eis" (2005, Grimme-Preis) tötet ein Junge aus Versehen ein Mädchen, "Keine Angst" (2009, Grimme-Preis) handelt von einer 14-Jährigen, die sich in einer tristen Vorstadt um ihre kleinen Geschwister kümmert, und in "Ein Jahr nach Morgen" (2012) will eine Mutter verstehen, warum ihre jugendliche Tochter zur Mörderin geworden ist. All’ diese Filme haben den Charakter von Fallstudien. Die Regisseurin schildert die Ereignisse keineswegs teilnahmslos, aber sie begnügt sich mit der Rolle der Beobachterin, weshalb die Darbietungen fast dokumentarisch wirken. Was den Eltern und Kindern widerfährt, sind derartige Grenzerfahrungen, dass sie nicht noch zusätzlich dramatisiert werden müssen; und das ist bei "Atempause" anders.
Geschichten wie die von Hannes sind grundsätzlich ergreifend. Viele Eltern werden sich solche Filme gar nicht erst anschauen; erst recht, wenn sie so eine Situation selbst erlebt haben. Dabei könnte diese Form von Konfrontationstherapie sogar nützlich sein: weil die Erkenntnis, das auch andere Eltern ähnliche Erfahrungen machen mussten, immer hilft; und weil es interessant ist, dabei zuzuschauen, wie sie damit umgehen. Das Drehbuch von Christian Schnalke (zuletzt "Katharina Luther"), Joyce Jacobs und Sven Halfar hat sich aber nicht mit diesem Thema begnügt, sondern die Handlung um viele weitere Aspekte angereichert, die unnötig vom Kern der Handlung ablenken. Gerade bei der Gestaltung der Figuren begehen Buch und Regie darüber hinaus einen entscheidenden Fehler. Dass Menschen auf außergewöhnliche Ereignisse extrem reagieren, ist ganz normal und daher schlüssig. In "Atempause" aber sind die Rollen auch schon vor dem Schicksalsschlag überzeichnet; bestes Beispiel ist die halbwüchsige Tina (Sarah Mahita), eine typische Fernsehfilmtochter, die Death Metal hört und ihre Mutter permanent provoziert. Die Eltern leben getrennt, was ihrer Erschüttertheit eine überflüssige weitere Komponente verleiht: Als wäre der Kummer angesichts des sterbenden Sohns nicht schon Fallhöhe genug, verfallen sie am Krankenbett ins typische Verhaltensmuster zerstrittener Paare und überziehen sich gegenseitig mit Schuldzuweisungen. Während Carlo Ljubek den Vater als überwiegend stillen Dulder verkörpert, der den Ärzten vertraut, lotet Katharina Marie Schubert das ganze dramatische Potenzial der Rolle aus, was die Empathie und somit auch die Identifikation erschwert; in unseren Breiten sind Menschen durch allzu extravertiert ausgelebte Trauer nun mal eher peinlich berührt als ergriffen.
Endgültig konstruiert ist der Gegenentwurf einer türkischen Familie. Während sich die Baumanns streiten, machen die sympathischen Eroglus vor, wie familiärer Zusammenhalt aussieht. Der kleine Yusuf, der sich mit Hannes ein Zimmer teilt, hat eine neue Leber bekommen. Auch auf dieser Ebene begnügt sich der Film jedoch nicht mit der Andeutung eines alternativen Lebensentwurfs. Die Eroglus rücken regelmäßig in Kompaniestärke an, die Großfamilie darf sich lärmend und essend im selben Zimmer wie Hannes und seine Eltern aufhalten. Es ist jedoch komplett unrealistisch, dass sich ein sterbendes Kind sein Zimmer mit einem anderen teilen müsste; schon allein, weil den betroffenen Eltern jede erdenkliche Ruhe ermöglicht werden soll. Die Zahl der Besucher auf einer Intensivstation ist ohnehin auf maximal zwei beschränkt. Nach einer Organtransplantation besteht zudem ein enormes Infektionsrisiko; Besucher dürfen nur von Kopf bis Fuß vermummt ans Krankenbett, ein Einzelzimmer ist zwingend.
Natürlich kann man einwenden, auch Krimis nähmen es mit der Realität nicht so genau, aber "Atempause" hat als Drama, das sicher nicht in erster Linie der Unterhaltung dienen soll, ganz offenkundig einen anderen Anspruch, der Film ist zudem Teil der Religionsthemenwoche "Woran glaubst Du?". Der entsprechende Bezug ist zwar halbwegs plausibel integriert, aber die Szenen wirken dennoch, als seien sie dem Drehbuch erst nachträglich hinzugefügt worden: Frank sucht einen Raum der Stille auf, der sich als Kapelle entpuppt, beginnt weinend ein "Vater unser", zieht es dann aber vor, mit Stühlen um sich zu werfen. Später unterhält sich Tina mit Yusufs Bruder kurz über Religion; die Eroglus sind selbstredend praktizierende Moslems.
Damit "Atempause" sein Publikum nicht gänzlich deprimiert entlässt, endet der Film versöhnlich. Mutter und Tochter sprechen sich aus, und das Schlussbild legt nahe, dass Frank und Esther zumindest zu einem freundschaftlichen Umgang miteinander gefunden haben.