Blaue Stunde auf der grünen Wiese

Wittenberg von der Elbbrücke aus zur blauen Stunde am 27. Mai 2017.
Foto: Lilith Becker
Wittenberg von der Elbbrücke aus zur blauen Stunde am 27. Mai 2017.
Blaue Stunde auf der grünen Wiese
Der letzte Abend des Kirchentags 2017: die einen schauen Fußball, die anderen machen sich auf zum großen Fest auf der Elbwiese in Wittenberg. Über Zehntausend übernachten auf den Elbwiesen. Wir sind dann mal dort.

Im Brauhaus gegenüber dem Wittenberger Rathaus kann man wirklich gut essen. Das Bier ist selbst gebraut und taugt als Stärkung am Samstagabend, vor allem wenn man den ganzen Tag über die Weltausstellung gelaufen ist und die Füße wund sind.

Die Sonne ist längst untergegangen, noch ist es hell, der BVB führt zwei zu eins im DFB-Pokalfinale: Zeit sich auf den Weg zu machen. Eine halbe Stunde habe sie mit dem Fahrrad zur Bühne auf den Elbwiesen vor Wittenberg gebraucht, erzählt eine Kollegin. Das war aber schon am Mittag, und sie hatte sich ein paar Mal verfahren. Zurück sei es deutlich schneller gewesen.

Tore der Freiheit in Wittenberg: Stege in den Himmel.

"Eine halbe Stunde", hat der frühere Inselpastor von Langeoog gesagt, "vielleicht ein bisschen mehr". Aber er ist sportlich, spielt Fußball und wird einen zügigen Schritt haben. Also, auf geht es. So erlebt man wenigstens die zweite Hälfte der Taizéandacht auf der Elbwiese.

Am Ausgang der Stadt reflektiert die Installation auf dem Bunkerberg mit den verspiegelten "Stegen in den Himmel" die Abenddämmerung. Dann unterquert man die Bahn, folgt den Menschen an der Bundesstraße entlang und bewundert die blau-grün erleuchteten Türme der Wittenberger Stadtkirche, den behelmten Turm der Schlosskirche, die zarte Mondsichel. Blaue Stunde.

Die roten Stahlträger der Elbbrücke ragen malerisch in den Himmel. In der Ferne sind die rot angeleuchteten Stoffbahnen der Gottesdienstbühne zu sehen. Erstaunlicherweise kommen einem ebenso viele Menschen entgegen, wie Menschen mit Ruck- und Schlafsäcken in Richtung Elbwiesen laufen.

Die Elbbrücke in Wittenberg.

Am Ende der Brücke geht rechts eine Schotterpiste ab, dann kommen Aluminiumbohlen, dann Matten mit Gumminoppen, und schon ist man bei den Taschenkontrollen angelangt. Nicht Sicherheitsbeamte, sondern Pfadfinder prüfen, ob Explosives drin steckt. Was könnten sie tun, wenn wirklich einer was dabei hätte?

Im gemütlichen Tempo zu Fuß hat es nun eine gute Dreiviertelstunde von Wittenberg aus gedauert. 40 Hektar Festwiese. Zum abgezäunten Gottesdienstbereich sind es nur noch vielleicht hundert Meter. Rasenfläche, auf der die Ersten ihre Isomatten und Schlafsäcke ausgebreitet haben. Der Himmel ist wolkenfrei, die kurz gemähte Wiese trocken.

Die roten Tücher hängen von einer runden Dachkonstruktion herunter, die auf vier zwölf Meter hohen Säulen ruht. Rund 50 Meter rechts und links sind Ikonen auf leuchtenden Wänden zu sehen. Auf dem Podest unter der Dachkonstruktion steht ein Ikonenkreuz.

Die Festwiese vor Wittenberg am 27. Mai 2017.

Ein Gebet erklingt durch die Lautsprecheranlage. Dann: "Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unserer Zeit". Es ist jetzt halb elf, bis zum Sonnenaufgang sind es eigentlich noch gut sechs Stunden. Auf dem eingezäunten Bereich vor der Bühne ist eine riesige Fläche mit Kunststoffboden. Rechts und links Klappstühle mit älteren Herrschaften, in der Mitte ganz viele Jugendliche. Eine riesige Menschenmenge teils im Kerzenlicht, teils im Widerschein der roten Bühnenscheinwerfer. Insgesamt sollen mehr als zehntausend Leute auf der Wiese sein, sagt Christoph Vetter, Leiter des örtlichen Pressezentrums. Das Wetter ist warm und trocken, geradezu ideal für eine Übernachtung.

Nun spricht Frère Alois, der Nachfolger des Taizé-Gründers Frère Roger, zu der Menge. Vor ihm, am Fuß der Bühne, knien mehrere weißgewandete Brüder. Schon optisch wirkt die Szene sehr katholisch. Frère Alois erinnert an eine Äußerung des Papstes, nach der Luther der Christenheit die Bibel und die Betonung der Gnade und der Liebe geschenkt habe. Und er äußert die Hoffnung, dass nun auch die protestantische Kirche die Universalität der katholischen Kirche anerkennen würde.

"Wundervoll, singe aus der Ferne mit"

Man kann kritisieren, was zumindest das Ende dieser Festandacht widerspiegelt: Der Protestantismus, eine ausgesprochen bürgerliche Bewegung von den Anfängen bis heute, feiert ihr 500-jähriges Bestehen und zieht aus der Stadt auf die grüne Wiese. Die Konfession, die das Heilige im Weltlichen sucht, ergeht sich in religiöser Gefühligkeit mit Gesängen und Wohlfühlatmosphäre, abgewandt vom Weltgeschehen.

Man kann es auch schön und spirituell finden, und so ergeht es vielen auch. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm spricht den Segen. Die jungen Menschen stimmen in die Taizémelodien ein, singen vielstimmig mit. Im Internet auf einem Live-Stream auf der Facebookseite von evangelisch.de schauen sich über 2.700 Nutzer innerhalb kürzester Zeit das Video zur Andacht an. "Wundervoll, singe aus der Ferne mit", kommentiert eine Nutzerin. "Taizé ist einfach toll, ich wäre auch gern dabei", eine andere. Und: "Sehr, sehr schöne Stimmung", so etwa klingen alle Kommentare.

Auf der Wiese ist es dunkel. Noch ein paar Taizé-Gesänge, dann sucht man sich einen Platz auf dem Rasen, schlägt Isomatte und Schlafsack auf und hofft auf ein paar Stunden Schlaf. Um halb fünf geht es weiter. Bläserklänge werden die Menschen wecken, noch vor dem ersten Sonnenstrahl.