Der als größte Regiehoffnung seines Landes gefeierte Kanadier Xavier Dolan ("Laurence Anyways"), gerade mal 25 Jahre alt, schildert in seinem ausgezeichnet gespielten, aber ungemein bedrückenden Drama die Beziehung zwischen der völlig überforderten Diane (Anne Dorval) und ihrem schwer erziehbaren 15jährigen Sohn. Der Junge, von Antoine-Olivier Pilon ungemein intensiv verkörpert, vereinigt in sich praktisch alle Verhaltensauffälligkeiten, die man in dem Alter haben kann. Seine Neigung zu impulsiver Gewalt führt Mutter und Sohn immer wieder weit über ihre Grenzen; von den Schmerzensgeldforderungen, die das karge Einkommen der verwitweten Diane weit übersteigen, ganz zu schweigen. Der Film beginnt, als es im Grunde bereits keine Hoffnung mehr gibt. Wie ein rettender Engel erscheint daher eine ebenso attraktive wie wortkarge Nachbarin: Der stotternden Kyla (Suzanne Clément), auch sie ein verletzter Mensch, gelingt es zumindest eine Zeitlang, ein Gleichgewicht zwischen Mutter und Sohn herzustellen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dolans Inszenierung lässt allerdings nie einen Zweifel daran, dass dieser fragile Frieden nur die Ruhe vor dem finalen Akt der Tragödie ist. Das ungewöhnliche fast quadratische Filmformat verzichtet zudem auf jeden Breitwandeffekt und erhöht so gewissermaßen noch den Druck auf die Figuren. Entsprechend befreiend ist der Moment des kurzen Glücks, als sich das Format weitet. In langen Einstellungen gibt Dolan seinen famosen Hauptdarstellern Gelegenheit, die ganze Tiefe ihrer Charaktere auszuloten. Dabei sind Szenen von einer mitunter fast schmerzlichen Emotionalität entstanden. Da gerade Steves Dialoge vor Kraftwörtern und Verbalinjurien nur so strotzen, entwickelt der Film mitunter sogar eine gewisse Tragikomik. Pilon gelingt dabei das Kunststück, dem jungen Mann aller Aggressivität zum Trotz sogar liebenswerte Züge zu geben: Gerade noch hat Steve seine Mutter gewürgt, im nächsten Moment wirkt er verletzlich und schutzbedürftig. Als Diane schließlich nicht mehr kann und den Jungen in ein Heim einweist, das mehr einem Gefängnis ähnelt, ist das fast herzzerreißend. "Mommy" ist beim Festival in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet worden.