Die westlichen Gesellschaften zeichneten sich gegenwärtig durch eine Weltablehnung aus, sagte der Soziologe Heinz Bude während einer Diskussion mit EKD-Vize Thies Gundlach zum Thema "Angstgesellschaft und Reformation" am Dienstagabend in Frankfurt am Main.
Die Nachkriegsgeneration sei mit dem Versprechen des Aufstiegs durch Bildung groß geworden, sagte der Kasseler Soziologieprofessor Heinz Bude. Bei der Generation der heute 20- bis 45-Jährigen gelte dieses Versprechen nicht mehr.
Angst ist eine existenzielle Grunderfahrung
Soziale Kompetenzen, so genannte soft skills, seien für die junge Generation wichtiger als Bildungszertifikate, wie Bude sagte. "Die vielen Möglichkeiten bedeuten aber auch, dass man Vieles falsch machen kann; aber was das ist, ist unklar." Die ständige Drohung eine falsche Entscheidung zu treffen, könne eine depressive Verstimmung hervorrufen. "Verfehlt man in einer Gesellschaft der Drohung sein Potenzial, gerät man in einen Zustand der Furcht und des Zitterns darüber, dass man sein Leben nicht gelebt haben könnte."
Thies Gundlach hatte schon zur Halbzeit der Reformationsdekade, im Mai 2012, eine Schrift mit dem Namen "Um Gottes Willen" über den Umgang mit der existenziellen Dimension der Reformation vorgelegt.
Der Analyse des Soziologen Bude setzte Gundlach die Überlegungen aus dieser Schrift zur Trias "Auszug aus der Angst – Einkehr bei Gott – Aufbruch in die Welt" entgegen. Aus dieser universalen Grammatik heraus lasse sich jeder existenziellen Tiefenerfahrung begegnen; die Trias sei deshalb auch die Antwort auf die anthropologische Grunderfahrung der Angst: Sie sei das Hoffen auf Heilung, Befreiung und Erlösung durch Gott.
Gundlach sagte: "Theologie leugnet dabei nicht die Angst, sondern sie begegnet den Herausforderungen des Lebens." Er selbst versuche in seinen Predigten das Selbstbewusstsein der Menschen zu stärken, sodass sie "frisch und fröhlich" aus dem Gottesdienst kämen. Und das wünscht er sich auch von seinen Kolleginnen und Kollegen: "Wir sollten in den Gottesdiensten die Seelen der Menschen trösten und ihre innere Haltung stärken, anstatt den Druck durch Vorhaltungen zu erhöhen", sagte der evangelische Theologe.
Dazu befragt, welche Rolle er den Religionen beimesse, antwortete Heinz Bude: Religionen könnten den Menschen zwei Grundangebote machen. Erstens könnten Religionen ein Modell für motiviertes Leben sein, mit dem man sich prüfen könne. Zweitens böten sie eine Berührung mit den Geheimnissen des Seins. "Für das erste Angebot interessiert sich aber in unserer durchsäkularisierten Gesellschaft heute keiner mehr", sagte Bude. "Schafft es der Protestantismus nicht die Menschen mit den Geheimnissen des Seins in Berührung zu bringen, verspielt er seine letzte Chance", warnte Bude hingegen.
Auch das Erstarken der rechtspopulistischen Bewegungen in Europa und den USA führte Bude auf diese permanente Angst der Menschen zurück, ihre "Potenziale nicht zu entfalten". Was Thies Gundlach eine "unendliche Veräußerung" nannte, nämlich das ständige Bedürfnis nach Rückversicherung in den sozialen Medien durch positives Feedback, zum Beispiel durch "Klicks" bei Facebook, beschrieb Bude mit den Worten des Philosophen Sartre: "Die Hölle, das sind die Anderen". Die "Anderen" seien zur Orientierung immer anwesend, was zu einer "Versklavung durch die Erwartungen der Anderen" führe.
Bude schlussfolgerte, dass diese "Versklavung" der Grund sei, warum die rechtspopulistischen Bewegungen Europas eine solch große Unterstützung der jungen Generation hätten; 40 Prozent der Wähler der Wilders-Partei in den Niederlanden seien beispielsweise unter 35 Jahre alt. "In den rechtspopulistischen Bewegungen können die von den Erwartungen Versklavten über starke Entscheidungen ein Gefühl für sich selbst entwickeln." Dies beeindrucke nicht nur die alten weißen Männer, sondern auch einen großen Anteil junger weißer Männer und Frauen, sagte Bude.
Die Reformation habe vor 500 Jahren auf die existenzielle Angst der Menschen eine Antwort gefunden, sagte Thies Gundlach, indem sie die Menge der Ängste verringert habe: "Statt vor einen furchteinflössenden Gott traten die Menschen vor einen gnädigen Gott. Sie mussten sich nicht von ihren Sünden freikaufen, sondern waren einfach frei. Dieser Gedanke hat eine Welle des Selbstbewusstseins und des aufrechten Ganges ausgelöst."
Gefragt nach dem Verhalten der Politik gegenüber der Angst in der Gesellschaft, sagte Bude, dass die Politik weder den Fehler machen dürfe die Angst der Menschen zu negieren, noch dürfe sie Angst vor der Angst der Leute haben: "Politik muss den Leuten sagen, dass sie keine Angst vor ihrer eigenen Angst zu haben brauchen", sagte Bude. So wie der amerikanische Präsident Roosevelt es bei seiner Amtsantrittsrede 1933 gesagt habe, sei die richtige Antwort auf das Klima der Angst: "Ich mache eine Politik, die Euch die Angst vor der Angst nimmt."